Animismus - Die Wurzel aller Religionen
- das Heidentum der Zukunft ?


von Parzival

Für jeden Menschen, der seine christliche Erziehung verblassen sieht, ergibt sich die faszinierende Wahrnehmung, welch gigantisches Ausmaß die naturalistische Religiosität jenseits des Christentums eigentlich hatte und heute in vielen archaischen Kulturen noch hat.
Es ist die Universalität des Heidentums, jenseits jedes Bekenntnisses, Missionsanspruches und historischer Begründung, welche die monotheistischen Religionen so nötig haben.
Es scheint zum Grundbestand menschlicher Kultur zu gehören, an verschiedene Göttinnen und Götter zu glauben, die mehr oder weniger mit der mächtigen Natur in Verbindung stehen.
Ob wir nun indianische Stämme nehmen, die am Amazonas leben, ob wir in das Leben einer mongolischen Jurte eintauchen mit ihren schamanistischen Riten oder versuchen zur Kenntnis zu nehmen, wie die alten Römer ihre Ahnen verehrten: Das Heidnische erweist sich als etwas Weltreligiöses schlechthin, ohne das es einen missionarischen Anspruch von einem bestimmten Ausgangspunkt erheben müßte.
Das ist das Bild, das sich im Großen bietet.
Doch wenn wir uns diese Beschreibung im Detail anschauen, stellen wir fest, daß es, geschichtlich gesehen, wesentliche Unterschiede gibt.
Mir geht es so, daß ich, je mehr ich mich mit den verschiedenen Formen nichtchristlicher Religiosität beschäftige, sehr verschiedene Varianten völlig unterschiedlicher Bedeutung wahrzunehmen beginne.
So läuft es für mich darauf hinaus, daß man eigentlich von „Heidentümern" sprechen müßte -  ja schlimmer noch: bei manchen heidnischen Gottesbildern frage ich mich ernsthaft, worin sie sich qualitativ wirklich vom Christentum unterscheiden.
Für mich ist dabei der Ausgangspunkt entscheidend, der mich veranlaßt hat, eine neue Religion zu suchen: Es ist die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung zur Natur, um das Gefühl des Mechanischen und der Leere in einer künstlichen Zivilisation zu überwinden.
Was aber heißt Natur ?
Ist es ein romantisches Bild duftender Wiesen, sprudelnder Bäche und hinreißender Sonnenuntergänge, das mich bewegt ? Das wäre wohl eine Überformung der Wirklichkeit der Natur durch ein Wunschbild.
Ich glaube, daß die Wirklichkeit der Natur auch Wahrnehmungen beinhaltet, die von erschreckender Fremdheit und Seltsamkeit sind, die ganz und gar kein romantisches Wohlgefühl hinterlassen. Aber sich dieser Fremdheit auszusetzen, bedeutet zu leben, indem ich etwas erlebe, was nicht von vornherein berechenbar ist.
Das Besondere des Naturreligiösen besteht für mich darin, sich auch das Fremde und Ungeheure vertraut zu machen, auch wenn es vorher ungewohnt war.
Der Kontext dieser Religiosität heißt nicht Verehrung oder Unterwerfung. Vielmehr geht es um Kommunikation eines Tiers, das dem Leben, das es in sich verspürt, auch in den Wesen und Kräften seiner Umgebung nachspürt.
Zunächst einmal sollten wir anerkennen, daß wir keine „Gottessöhne" oder „Krone der Schöpfung" sind, sondern Tiere, die sich ihren Weg auf einem Planeten zu suchen haben, aber leider ihren tierhaften Ursprung zu verdrängen gewohnt sind.
Wenn wir bereit sind, uns dieser Erkenntnis zu öffnen, können wir mit den Bäumen, Bergen, Flüssen, Tieren, Sternen und Wolken in Verbindung treten. Das ist eigentlich alles.
Es ist aber schwieriger, als wir denken, weil wir uns durch die Überentwicklung unseres Großhirns so sehr weit entfernt haben von diesem ursprünglichen Sein. Deshalb „Religio", also Rückbeziehung, Rückbindung an das Ursprüngliche, was ja doch im Rahmen seiner Verdrängtheit nicht vergangen ist, sondern Schmerzen bereitet, sofern wir es ignorieren.
Woran wir leiden, sind in meinen Augen drei Dinge:  1. Der Vorrang des abstrakten Denkens vor dem konkreten Wahrnehmen; 2. Die Überschätzunmg der menschlichen Gestalt vor den übrigen Formen der Natur; und 3. Der Vorrang des inneren Bildes gegenüber dem, was dieses Bild als Wahrnehmung einer Sache in der Außenwelt eigentlich nur repräsentiert..
Diese Eigentümlichkeiten haben uns in die Lage versetzt die Natur zu beherrschen und schließlich auch die Herrschaft des Menschen über seinesgleichen zu verfestigen.
Jetzt aber, nach einem jahrhundertausende langen Prozeß der biologischen und einem jahrtausende währenden Prozeß der gesellschaftlichen Evolution, da wir dabei sind, das Leben unserer Erde zu zerstören, ohne daß wir das überhaupt noch wahrnehmen, sollten wir beginnen, neue Wege zu gehen.
Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für das neue Heidentum ?
Viele Menschen, insbesondere Frauen in der heidnischen Bewegung z.B. glauben an eine Gottheit, die sie sich in weiblicher Gestalt vorstellen, und die gegenüber dem Leben der Erde von Fürsorge und Aufmerksamkeit geprägt ist. Es ist eine Göttin, die alles Leben umfaßt und in sich trägt, zu der ich aber auch persönlich in Beziehung treten kann.
Ich meine, es ist eindeutig, daß es sich hier um ein positives Vorstellungsbild von der eigenen Mutter handelt, das viele Menschen an diesem Gottesbild anspricht. Das ist, ebenso, wie das christliche Gottesbild vom göttlichen Vater ein Bild, das Geborgenheit und Ganzheit vermittelt - aber natürlich auch Macht - Allmacht und Abhängigkeit des Anbetenden. Es ist diese Abhängigkeit, die leicht in Unmündigkeit umschlagen kann. Und wenn dieses Gottesbild eine pantheistische Note hat, also von der Vorstellung ausgeht, daß dieses persönliche Wesen alles Lebende durchdringt und umfaßt, dann resultiert daraus eine weitere Gefahr:
Die Eigenständigkeit der Tiere, Pflanzen und der unendlich vielen unterschiedlichen Landschaften der Erde verfällt der persönlichen Machtvolkommenheit eines personalen Wesens.
Ich habe nichts dagegen, daß insbesondere Frauen ihr durch das Patriarchat geschädigte Selbstgefühl wieder kräftigen, indem sie eine solche Göttin in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellen.
Ich meine aber, daß es besser ist, den Kontakt mit dem Lebendigen direkt zu suchen. Ich sehe hier eine mehrfache Verschleierung des „Handgreiflichen" durch dieses Gottesbild: Die Welt als Ganzes ist eine Ansammlung vieler Wesen und Kräfte. Sie ist keine große Frau. Natürlich auch kein großer Mann, wie es die christlichen Pantheisten glaubten. Und wenn dieses Bild eine Täuschung ist, zugegebenermaßen eine angenehme, liebevolle Selbsttäuschung, dann ist auch der Glaube an die Geborgenheit in diesem Bild, also der oft unausgesprochene Glaube, daß dieses Wesen sich um uns kümmert, eine Illusion.
Daraus entsteht genau die gleiche Täuschung, wie im Christentum: Daß es irgendwo eine Instanz gibt, die für uns alle Verantwortung trägt und sich um uns kümmert. Nur dann, wenn sich ein bestimmter Mensch um ein bestimmtes anderes Wesen kümmert, wird der Wunsch nach Geborgenheit und Solidarität erfüllt. Da draußen ist sonst niemand, der es tun würde. Es gibt keinen Vater im Himmel, aber es gibt auch keine Mutter im Himmel.
Das ist hart, doch wir können entscheiden, ob wir Kinder bleiben oder zu Erwachsenen werden wollen.
Aber es ist z.T. noch schlimmer als nur eine verklärte Unmündigkeit. Die Göttinnenkulte sowohl der Vergangenheit (z.B. der Isis-Kult) als auch der Gegenwart behaupten, daß alle aus der Religionsgeschichte bekannten Göttinnen letztlich nur Ausdrucksformen einer Göttin sind.
Um so etwas zu wissen, müßte ich alle Göttinnenkulte der Vergangenheit sehr gut kennen. Es ist also schlichtweg eine Anmaßung, es ist religiöser Imperialismus.
Woher nehme ich das Recht zu behaupten, daß z.B. die indische Göttin Ganga, die den Fluß Ganges verkörpert, genau die gleiche Kraft ist, die sich in einer „weißen Frau" manifestiert, die ein europäischer Bauer in der Nähe eines heiligen Berges antrifft ?
Ich wundere mich nicht über die starke Präsenz amerikanischer oder britischer Bildungsbürger im Umfeld dieser Theorien. Das Vereinnahmende ihrer theologischen Interpretation entspricht, natürlich weitgehend unbewußt, ihrem historischen Umgang mit unterworfenen Kulturen. Wenn ich gemein wäre, würde ich noch näher die Frage untersuchen, inwiefern so eine Sichtweise typisch für einen britischen Kolonialbeamten ist, der Gerald Gardner war.
Kehren wir also zur Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zurück, in unserer Umgebung, im Kontakt zu den Lebewesen, indem wir das in ihnen pulsierende Leben versuchen zu erspüren.
Ich bin gegen eingebildete Gestalten, die uns in einer Innenschau gegen die äußere Welt immun machen, mit denen sich der Mensch selbst verherrlicht, sich selber als Herrin oder Herr über die Natur setzt.
Darin liegt nicht nur eine Überschätzung des Menschen, welche durch unsere heutige Einsicht in das Zerstörerische des menschlichen Handelns gründlich widerlegt ist. Es ist auch ein eklatanter Widerspruch gegen alles Naturreligiöse, wenn ich die Natur verehre, indem ich sie durch etwas Naturfernes repräsentiere und dann dieses Naturferne verehre, statt der Kräfte der Natur selbst.
Statt einer menschengestaltigen Gottheit, die die Natur in sich aufnimmt und bildlich darstellt, ein Bild, welches für uns zu groß geraten ist, sollten wir uns  Menschen als Wesen sehen, die Teil der Natur sind.
Ich habe jetzt das Gottesbild der feministischen Spiritualität kritisiert.
Mit den Göttern der polytheistischen Traditionen ist es auch nicht besser. In all diesen Traditionen treffen wir verschiedene menschliche Gestalten an, die sich in ihrer Exklusivität gegenüber der Natur behaupten. In fast allen insbesondere indoeuropäischen Mythen sind die Götter der Gegenwart als erfolgreiche Sieger eines Kampfes hervorgegangen, in dem sie ältere, stärker naturbezogene Gottheiten überwunden haben.
Viele dieser neuen Gottheiten verkörpern Stammesfürsten (z.B. Odin, Dagda, Zeus) oder Gestalten, die dem Verehrer bestimmte materielle Vorteile in der Ausnutzung der Erde verheißen. Die Strukturen dieser Göttermythen deuten meist auf Stämme hin, in denen ständig persönliche Machtkämpfe im Gange sind, in denen man selbst Stellung beziehen muß.
Also haben wir es hier genau wie beim Göttinkult mit einer Selbstverherrlichung des Menschen zu tun und noch zusätzlich mit der mythologischen Verklärung krankhafter gesellschaftlicher Verhältnisse.
Hier erscheinen mir manche neuheidnischen Deutungen, die diese Gestalten als Ausdrucksformen bestimmter Naturkräfte betrachten, wie aufgesetzt und angehängt.
Meine Alternative ist der Animismus.
Er bedarf gar keiner Bilder und schon gar keiner Hierarchien, die mir die wahre Religion vermitteln.
Animismus heißt, machtvolle Wesen in der umgebenden Natur zu erkennen und mit ihnen Kontakt zu pflegen.
Daß ein Baum, der zehnmal so groß und doppelt so alt ist wie ich, etwas Bedeutendes ist, bedarf keines Glaubens. Das ist einfach so.
Daß ein Tier, daß hundertmal kleiner als ich und dennoch von höchster Komplexität und Beweglichkeit in seiner Umgebung angepaßt ist, als ich, das erheischt Respekt. Aber es bedarf keiner Litaneien.
Diese Religion gilt mir als ursprünglichste Religion der Welt. Und die Macht aller anderen Mythen und Bilder beruht einfach nur darauf, daß sie sich fortwährend aus dem Inventar dieser „Urreligion" bedienen, daraus räubern, um die Armut ihrer intellektuellen Künstlichkeit zu verdecken.

Literatur:

Johanna Wagner: Verteidigung des Animismus - Belebte Materie, Unsterblichkeit und Physik; in: Ein Füllhorn göttlicher Kraft, Berlin 1992
Thomas Schweer: Stichwort Naturreligionen, München 1995
Rudolf Steiner: Zur Sinneslehre, Stuttgart 1994
Die Vorsokratiker I + II, Übers. U. erläutert von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1996
Heinz-Jürgen Ahlborn: Sinnes-Übungs-Feld, Selbstverlag 1999
Heinz-Jürgen Ahlborn: Das Licht der Sonne und das Licht der Medien, Selbstverlag 1999
Hugo Kükelhaus / Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne, Frankfurt a.M. 1997