Die Epoche der Romantik im Übergang vom 18. Zum 19. Jhdt. habe solchen Werten wie seelischer Tiefe, übersinnlicher Erkenntnis und religiöser Einsicht neue Impulse verliehen und damit eine diametrale Wende eingeleitet.
Ich bin der Auffassung, daß die Aufklärung hier auf eine falsche, simplifizierende Weise gedeutet wird.
Das Bewußtsein
der neuen Heiden und Hexen von ihren eigenen historischen Wurzeln ging
bisher durchaus seltsame Wege. Ihr hauptsächlicher Gegenstand, die
historische Phantasie, zeigt sich am rückwärtigen Horizont einer
Welt, über die wir wenig wissen, die aber dennoch extrem wichtig wurde.
Ich spreche von
der Welt der Kelten und Germanen, von der Welt des Mittelalters. Nachdem,
wie Benedict Anderson in seinem 1983 erstmals erschienenen Werk beschreibt,
die modernen Nationen (nicht nur in Europa) erfunden wurden, bedurfte es
einer Wurzelbildung dieser Chimären in der Vergangenheit: Damit war
das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhundert voll ausgelastet -
das deutsche infolge der verzögerten Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins
noch etwas länger, als dasjenige Frankreichs und Englands.
Obwohl kein heute
lebendes Individuum seine Deszendenz von frühneuzeitlichen Hexen,
mittelalterlichen isländischen Goden oder eisenzeitlichen Druiden
nachzuweisen vermag, will der Theaterdonner Hörnerhelmtragender, weiße
Gewänder Schwingender nicht verstummen.
In Anlehnung an
einen bekannten Buchtitel führten mich meine historischen Recherchen
aber nicht „mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit". Auch nicht in die
Zeit der Germanen und Kelten. Sondern zunächst einmal in eine Epoche,
die man normalerweise auch noch über das „Treppenhaus" unserer europäischen
Historie zu erreichen vermag. Die Rede ist vom 18. Jahrhundert.
Wie das ?
Hinein ins Zeitalter des Rationalismus, der Beschimpfung und Entehrung
aller alten Traditionen, womit die Vorarbeit geleistet wurde zu einer Umwertung
aller alten Werte in das Blutbad der Revolution ?
Nun, auch in
ein Äon der Befreiung bürgerlicher Schichten aus ständischer
Sklaverei, in die Bewußtwerdung und Infragestellung aristokratischer
Tyrannei. Hinein auch in ein Zeitalter, in dem die religiöse Toleranz
dem religiösen Fanatismus die Stirn bot und die Kraft des menschlichen
Verstandes dem Glauben um jeden Preis.
Zwischen den
mörderischen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts und der noch andauernden
feudalaristokratischen Knechtung des Menschen einerseits und der nationalistischen
Verblödung und dem kolonialistischen Blutrausch des 19. Jahrhunderts
leuchtet es auf, das Jahrhundert der Aufklärung.
Ein Moment des
Innehaltens in der Geschichte, in welchem das Interesse an der Natur ebenso
stark in den Vordergrund rückte, wie die Aufmerksamkeit auf das Menschliche
an sich - das Menschliche jenseits kollektiver Zwänge.
Natürlich
bin ich nicht so naiv, zu glauben, daß diese neue Freiheit nicht
lediglich eine Freiheit für wenige geblieben war. Sie hätte aber
eine Freiheit für viele werden können, sie könnte dieses
vielleicht heute noch.
Es muß
aber die Gegensätzlichkeit der Geistigkeit des 18. und des beginnenden
19. Jhdts. in einen grösseren Rahmen eingebettet werden: Nämlich
in den einer graduellen Ablösung des europäischen Denkens vom
christlichen Dualismus und Transzendentalismus.
Dieser Ablösungsprozess
begann bereits im 15. Jhdt. mit dem Zeitalter der Renaissance und entwickelte
sich im 16. und 17. Jhdt. auf dem Hintergrund des protestantischen und
rosenkreuzerischen Humanismus einerseits und der Naturforschung andererseits.
Was aber war die Essenz dieses Impulses und worin spiegelt sie sich sichtbar
wieder ?
Die Kunst der
Renaissance verdeutlicht mit ihrer lebendigen Imagination der antiken Gottheiten
ein Interesse an der Wirklichkeit der Natur, wie es im 16. Jahrhundert
auch die hyperrealistische Malerei Caravaggios zelebriert.
Die künstlerische
Gattung des niederländischen Stillebens wie auch die Ästhetik
der Naturalienkabinette signalisiert gleichfalls dieses sinnliche Interesse
an der Lebendigkeit der Natur. All diese Bestrebungen erlitten durch Gegenreformation
und von Klerikern angezettelte Religionskriege einen herben Rückschlag.
Aber letztlich ließ sich das Aufblühen eines naturalistisch-ganzheitlichen
Weltbildes damit nur verzögern.
Im 18. Jahrhundert
mündet dann das emotionale Interesse an der Natur ein in den Versuch,
die Natur mittels des menschlichen Denkens zu ergründen. Das war dann
die Wurzel der modernen Naturwissenschaft - aber sie war es noch nicht
in jener zersplitternden, analytischen Form, wie sie sich im letzten Viertel
des 19. Jahrhunderts entwickeln würde.
Wenn man der Frage nachgeht, warum Vernunft und Materie in der Blüte des 18. Jhdts so hoch bewertet wurden, muß man die Ergänzung von Gegensätzen in Rechnung stellen, wie sie die Periodizität der europäischen Geschichte in immer wieder neuen Variationen wiederspiegelt.
Das hemmungslos mißbrauchte Vertrauen, wie es ein Zeitalter des Glaubens kultivierte (ob nach römischer als auch lutherischer Manier) musste zwangsläufig einen Aufschrei nach philosophischer Logik und Einsicht als natürlichem menschlichem Erkenntnismittel zur Folge haben.
So war der "Rationalismus" nur der notwendige Versuch, den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten erneut auszustatten - entgegen der kirchlichen Irrationalität, die den Menschen auf gefühlsmäßige Überzeugungen begrenzte.
Die Erkenntnis der umfassenden Fähigkeiten des biologischen Wesens Mensch führte zum Humanismus, zum Kult des Menschlichen als zentraler Instanz des Erkennens und Erlebens im Gegensatz zum Menschen als Anhängsel eines klerikalen Kollektivs. Die Betrachtung des Menschlichen führte auch dazu, kirchliche Mythen wie die elementare Verwerflichkeit des Menschen zu relativieren.
Diese wirklichkeitsnahe Sichtweise des Menschen wäre aber nicht möglich gewesen, ohne das gleichzeitige Interesse an der Natur, das die Welt als ein System von Abhängigkeiten verschiedener Pflanzen, Tiere sowie klimatischer und geographischer Gegebenheiten interpretierte.
Diese Sichtweise der Welt als eines Systems umfassender Zusammenhänge zwischen einzelnen Instanzen wurde von einer interessierten Hyperspiritualität denunziert - indem sie es auf die blosse Existenzfeststellung ihrer Teile reduzierte und damit als "Materialismus" apostrophierte.
Was sich in Form des skizzierten Prozesses vom Ende des 15. Jhdts. bis zum Ende des 18. Jhdts (also in nahezu 300 Jahren !) herausbildet, ist der Begriff der Natur. Dieser Erkenntniswille beginnt mit den naturreligiösen Gemälden Boticellis und endet (zunächst) mit der Naturphilosophie Goethes sowie der Anerkenntnis der mentalen Eigenständigkeit des menschlichen Bios in den Grundsätzen Kants.
Dabei zeigt sich eine Doppelbödigkeit des Naturbegriffs, die das Zusammengehörige von gedanklicher Erkenntnis (Philosophie) und spiritueller Bildekraft (Mythos) belegt: Natur ist einerseits ein Begriff, mit dem die detaillierte Beschreibung des Kosmos generalisiert wird - andererseits ist mit der "Mutter" Natur als Göttin eine sinnlich angesprochene Gestalt benannt, deren kultisch-religiöse Wertigkeit kaum zu leugnen ist.
Das Interesses an der Natur und die Einbettung des Menschen als eigenständiges Wesen in sie hinein ist also kein "Exzess von Rationalismus und Materialismus". Es ist vielmehr das Aufscheinen einer völlig neuen, völlig anderen Spiritualität, nämlich einer innerweltlichen Bewertung des Geistigen, des Göttlichen.
Es wirft folglich
ein seltsames Licht auf eine spiritualistische Denunziation des Naturalismus,
ihn einer Opferung aller höheren ethischen Werte zugunsten einer „primitiven"
Instinktivität zu bezichtigen.
Naturalismus
verstanden als amoralisches System unterstellt der Natur Zweckdenken, Erbarmunglosigkeit
und Brutalität - eine Interpretation, die von Kritikern des Darwinismusm,
wie z.B. Reinhard Eichelbeck brilliant widerlegt wird.
Beleuchten wir kurz einige Etappen dieses Prozesses anhand konkreter Quellen, Personen und ihrer Gedankengänge:
Bereits in der
Aufbruchszeit der Aufklärungsphilosophie von ca. 1690 bis hin zur
Mitte des 18. Jhdts. entwickelt sich die sogenannte Physikotheologie, in
der die Betrachtung der Natur als eine Form der Erkenntnis des Göttlichen
gesehen wurde (s. Alt, S. 34 ff.).
Einer der markantesten
Vertreter dieser Richtung war der Hamburger Ratsherr und Poet Barthold
Heinrich Brockes (1680-1747), dessen begeistertes Gotteslob in Form ekstatischer
Naturempfindungen zum Ausdruck kommt - keine Spur von Jenseitskult, aber
auch keine Spur eines Kultes der reinen Vernunft !
Eine kurze Kostprobe
aus einem Gedicht von Brockes über die Erde:
„Kurtz, es ist der Bauch der Erden/ Ganz mit Wundern angefüllt/ Und kann nicht gezählet werden/ Was ihr dunkler Schoß verhüllt. / Viele Weisen, die drauf achten,/ Und die Seltenheit betrachten/ Geben ganz erstaunet für/ Sie sey ein beseeltes Thier./ Dem zu Folge sie denn schliessen/ Dieser Strom und Quellen Fluth/ Sey des Erden-Körpers Blut/ [...]/ Ihres Körpers Fleisch soll Leimen [Lehm]/ Ihre Knochen, Fels und Stein/ und das Laub auf Sträuch´ und Bäumen/ ihre Zier und Haare sein;/Unsre Luft, die aus dem Boden/ stetig duftet sei ihr Oden/ Ihr Geseufz sey Sturm und Wind/ So man oft mit Furcht empfindt".
Diese Grundgedanken,
die schon Brockes beseelten, beschäftigten auch noch ein halbes Jahrhundert
später eine junge Frau, die zur Bekanntschaft des aufklärerischen
Philosophen Moses Mendelssohn gehörte. Am 24. Dezember 1785 schreibt
ihm Sophie Becker einen Brief:
„Sie fühlt
eine Leere im Herzen und begreift sich nicht mehr; der Gedanke „Gott" bedeutet
ihr immer weniger, nur „bei der Betrachtung der Natur und der manngfaltig
wirkenden Kräfte" kann Sophie noch „bewundern, erstaunen und verstummen"
(Knobloch, S. 426).
Ein Jahr zuvor
war ein seltsames Buch erschienen, dessen Erstausgabe in Paris 1781 zu
verzeichnen war: „Der fliegende Mensch" von Retif de la Bretonne. Es schildert
auf naive Weise die Begründung einer idealen Gesellschaft, beinhaltet
also eine Art literarischer Utopie. An einem bestimmten Punkt kommt dann
die Religion jener utopischen Gesellschaft zur Sprache:
»Noch habt Ihr mir nichts von Eurer Religion gesagt, mein Herr.«
»Um Verzeihung, aus dem Begriffe, den ich Euch vom göttlichen Urprinzip gegeben habe, habt Ihr abnehmen können, wie unsere Religion beschaffen sein müsse"
»Aber worin besteht Euer Gottesdienst?«
»In einem einzigen Punkt: Im Gebrauch unsrer Organe, auf eine den Winken der Natur angemessene Art: nichts zu übertreiben, nichts zu vernachlässigen.«
»Ihr habt also keine Tempel?«
»Doch (auf die Erde zeigend), hier ist er: Viermal im Jahre, bei den Sonnenstillständen und Tag- und Nachtgleichen versammeln vier allgemeine Feste die Nation; und der bejahrteste unter den Alten bringt unsere Ehrerbietung erst der Mutter Erde alsdann Vater Sonne dar. Drauf richtet man ein gemeinschaftliches Gebet an beide, um unsre fromme Ehrfurcht dem höchsten Wesen darzubringen. Diese drei Gebetsformeln lauten also:
1. 0 Erde, gemeinschaftliche Mutter, mächtige Tochter der prächtigen Sonne, wir, deine Kinder, haben uns versammlet, um dir unsre kindliche Ehrerbietung darzubringen. 0 heilige Erde, gemeinschaftliche Mutter, ernähre uns!
2. Prächtige
Sonne, Vater des Verstandes, des Lichtes und der Wärme, der Bewegung
und des Lebens, Sohn Gottes, Vater und Gatte der Erde, unsrer Mutter, wie
die Kinder deiner erhabnen und ehrwürdigen Tochter - Gattin, Erde,
wir sind versammlet, um dir unsere kindliche und ehrfurchtsvolle Gehorsamsbezeigung
zu bringen.
O heilige Sonne,
belebe uns!
3. Fruchtbare Erde! Zeugende Sonne, Kinder des großen Gottes, der euch Dasein, Verstand und Zeugungskraft gegeben hat, um den Überfluß eures Lebens den Menschen, Tieren und Pflanzen mitzuteilen, erhabene und mächtige Gottheiten, bringt unsere Ehrfurcht mit der eurigen vereinigt eurem göttlichen Vater dar, damit er uns in und durch euch segne. Ehre sei der Mutter Erde! Ehre dem Vater Sonne ! Tiefe Anbetung dem höchsten Wesen, dem allmächtigen allumfassenden Vater des Ganzen.
Die Nation wiederholt die letzten Worte-. Ehre der Mutter Erde usw. Welch zärtliches Gefühl haben nicht diese heiligen Worte dem Munde unsres zweihundertundzwanzigjährigen Alten, unterstützt von zwei andern, einem von zweihundertundneunzehn, dem andern von zweihundertundzehn Jahren, hervorgebracht! ... Drauf folgen Feierlichkeiten, Spiele, Tänze und Vergnügungen aller Art; denn wir nehmen den Grundsatz an, daß Freudigkeit die wirksamste Art sei, die Gottheit, die Sonne, unsern Vater, und die Erde unsre gemeinschaftliche Mutter, zu ehren."
Die Spuren naturreligiöser
Denkweise, die das 18. Jahrhundert aufzuweisen hat, führen aber nicht
nur hinaus in die große Natur um uns herum. Es ist auch der
Gedanke einer spezifisch menschlichen Natur im tierischen Sinne, den man
der christlichen Vorstellung gegenüberstellt, daß der Mensch
aus einer höheren Welt komme, und zur Natur in Distanz stehe.
Jean-Jacques
Rousseau: „Nehme ich nun diesem Geschöpf alle übernatürlichen
Gaben, die es empfangen hat, und alle künstlichen Fähigkeiten,
die es nur infolge großer Fortschritte erwerben konnte, und betrachte
es so, wie es aus den Händen der Natur hervorgegangen sein muß,
dann sehe ich ein Tier vor mir, das von einigen an Stärke, von anderen
an Schnelligkeit übertroffen wird, das aber, im ganzen genommen, am
vorteilhaftesten von allen ausgerüstet ist" (Rousseau, S. 124). Und
weiter: „...Welch verheerende Folgen haben die Zerrüttungen und Erschöpfungen
des Geistes, der Ärger, der Verdruß und die Sorgen, von denen
kein Stand frei ist und die uns ständig an der Seele nagen. Dies alles
sind die traurigen Beweise, daß die meisten leiden, die uns widerfahren,
von uns selbst verursacht wurden und daß wir sie alle hätten
vermeiden können, wenn wir so einfach, gleichförmig und allein
lebten, wie es uns die Natur vorschreibt. Hat uns die Natur dazu bestimmt,
gesund zu sein, so wage ich zu behaupten, daß das Nachdenken ein
widernatürlicher Zustand und ein Mensch, der sich in Betrachtungen
vertieft, ein aus der Art geschlagenes Tier ist" (Rousseau, S. 129).
Ich frage die
spirituell Interessierten der Gegenwart, z.B. Zen-Buddhisten oder Schamanistisch
Tätige, ob sie schon jemals eine derartig schlichte Darlegung unserer
Probleme und ihrer Lösungen in einem jener unsäglichen esoterischen
Schinken gelesen haben !?
Jedenfalls hatte
der Glaube an etwas ursprünglich Natürliches im Menschen Wurzeln
geschlagen im europäischen Denken, wie es auch Friedrich v. Schillers
„Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts" im Jahre
1795 deutlich zeigt: Hier erklärt er uns, daß eine gerechte
gesellschaftliche Ordnung wieder möglich werden könnte, wenn
„...die Trennung in dem inneren Menschen wieder aufgehoben und seine Natur
vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu
sein und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität
zu verbürgen...Die Natur zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung
den Weg vor, den man in der moralischen zu wandeln hat".
So, wie im modernen
Tantrismus und in der Sexualtherapie das naturreligiöse Interesse
konkrete Formen annimmt, war es auch damals - wenngleich auch in einer
teils verzerrten, teils humoristisch bis absurden Gestaltungsweise.
So läßt
schon erwähnter Retif de la Bretonne in seiner „Anti-Justine" die
Teilnehmer einer Orgie deklamieren, nachdem sie die Gestalten des Neuen
Testaments in einem pornographischen Kontext verballhornt hatten: „Ja...das
nennt man die wahre Naturreligion erfassen und die Gottheit anbeten, wie
es ihr zukommt, indem man sie um vernünftige Dinge anfleht."
Und der Marquis
des Sade (1740-1814) läßt in der „Juliette" eine seltsame orgiastisch-satanistische
Geheimgesellschaft Folgendes proklamieren: „Die Gesellschaft leugnet Gott.
Man muß einen Beweis seines Atheismus liefern, um eintreten zu können.
Der einzige Gott, den die Gesellschaft kennt, ist die Lust. Sie opfert
alles diesem Gotte. Sie biligt alle denkbaren Lüste, sie heißt
gut, alles was entzückt. Alle Wollüste sind in ihrer Mitte geheiligt."
(de Sade, S. 373).
Der Versuch der Kleriker und Feudalaristokraten, diesen Erkenntnisprozeß des Menschen über sich selbst aufzuhalten, führte erst zu Antiklerikalismus und revolutionärem Umsturz. Die absolutistische Arroganz in ihrer hemmungslosen sozialen Blindheit war die Mutter der Guillotine und ihres mörderischen Treibens. Ob 1789 oder 1917.
Nun passierte ein Unglück: Die europäischen Menschen verspürten das Gewaltsame ihrer Impulse - und schreckten davor zurück, ihnen bis zur letzten Konsequenz nachzugehen: Das Zeitalter der Restauration, der nationalistischen Legendenbildung und des romantisierenden Rückzugs war geboren. Industrialisierung und Kapitalismus erhoben ihr stählernes Haupt. Und wenige Jahrzehnte später folgten Spiritismus, Theosophie und die Natur vergewaltigende Ritualmagie.
Das 19. Jhdt. war gekennzeichnet durch eine rein logische und automatistische Wissenschaft (Erkenntnis der Welt durch Auflösung in ihre Teile) einerseits und einen exzessiv irrationalistischen Okkultismus andererseits.
Die Zerstörung der ländlichen Sozialstruktur hatte die Bildung von nationalistischen Ursprungsmythen zur Folge, die künstliche Identitäten zu erwecken half. Nicht mehr die sinnliche Wahrnehmung der Welt war interessant, sondern das Vorstellungsvermögen in Bezug auf die Vergangenheit. Und in diesem Sumpfe begannen sich die Wurzeln dessen zu bilden, was wir als Neuheidentum bezeichnen.
Literatur:
Peter-Andre Alt: Aufklärung - Stuttgart/Weimar 1996
Retif de la Bretonne: Der fliegende Mensch, herausgegeben von Klaus Völker, Frankfurt a.M./Berlin 1986
Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott - Naturlyrik und Lehrdichtung; Ausgewählt und herausgegeben von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999 - ISBN 3-15-002015-8 - Reclam, 13.00 DM
Reinhard Eichelbeck: Das Darwin-Komplott, Aufstieg und fAll eines pseudowissenschaftlichen Weltbildes, C.Bertelsmann-Verlag 1999
Heinz Knobloch: Herr Moses in Berlin, (Ost)-Berlin 1979
Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1753), in: Frühe Schriften, (West)-Berlin 1985
Donatien-Aldonze-Francois de Sade: Juliette oder die Wonnen des Lasters - Erstes Buch, Köln 1995
Webewölfin: Brockes - ein Wegweiser zu natürlicher Spiritualität, in: Der Hain, Online-Magazin für natürliche Religion und gesellschaftliche Veränderung, Rubrik „Lesenswerte Bücher"
Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 1987