Die Epoche der Aufklärung und des Naturalismus - ein Rückschlag für die Spiritualität ?
Eine Entgegnung auf Stefan Giebels Gedanken in „Albion"  - geprägt von der Hoffnung, eine geistige Auseinandersetzung in Gang zu setzen.
von Matthias Wenger


Die Überzeugung, daß Aufklärung identisch gewesen sei mit kaltschnäuziger Rationalität, materialistischer Primitivität und Leugnung des Geistigen, beinhaltet eine Sichtweise des 18. Jahrhunderts, der wir in der esoterischen Literatur häufig begegnen.

Die Epoche der Romantik im Übergang vom 18. Zum 19. Jhdt. habe solchen Werten wie seelischer Tiefe, übersinnlicher Erkenntnis und religiöser Einsicht neue Impulse verliehen und damit eine diametrale Wende eingeleitet.

Ich bin der Auffassung, daß die Aufklärung hier auf eine falsche, simplifizierende Weise gedeutet wird.

Das Bewußtsein der neuen Heiden und Hexen von ihren eigenen historischen Wurzeln ging bisher durchaus seltsame Wege. Ihr hauptsächlicher Gegenstand, die historische Phantasie, zeigt sich am rückwärtigen Horizont einer Welt, über die wir wenig wissen, die aber dennoch extrem wichtig wurde.
Ich spreche von der Welt der Kelten und Germanen, von der Welt des Mittelalters. Nachdem, wie Benedict Anderson in seinem 1983 erstmals erschienenen Werk beschreibt, die modernen Nationen (nicht nur in Europa) erfunden wurden, bedurfte es einer Wurzelbildung dieser Chimären in der Vergangenheit: Damit war das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhundert voll ausgelastet  - das deutsche infolge der verzögerten Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins noch etwas länger, als dasjenige Frankreichs und Englands.
Obwohl kein heute lebendes Individuum seine Deszendenz von frühneuzeitlichen Hexen, mittelalterlichen isländischen Goden oder eisenzeitlichen Druiden nachzuweisen vermag, will der Theaterdonner Hörnerhelmtragender, weiße Gewänder Schwingender nicht verstummen.

In Anlehnung an einen bekannten Buchtitel führten mich meine historischen Recherchen aber nicht „mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit". Auch nicht in die Zeit der Germanen und Kelten. Sondern zunächst einmal in eine Epoche, die man normalerweise auch noch über das „Treppenhaus" unserer europäischen Historie zu erreichen vermag.   Die Rede ist vom 18. Jahrhundert.
Wie das ?  Hinein ins Zeitalter des Rationalismus, der Beschimpfung und Entehrung aller alten Traditionen, womit die Vorarbeit geleistet wurde zu einer Umwertung aller alten Werte in das Blutbad der Revolution ?
Nun, auch in ein Äon der Befreiung bürgerlicher Schichten aus ständischer Sklaverei, in die Bewußtwerdung und Infragestellung aristokratischer Tyrannei. Hinein auch in ein Zeitalter, in dem die religiöse Toleranz dem religiösen Fanatismus die Stirn bot und die Kraft des menschlichen Verstandes dem Glauben um jeden Preis.
Zwischen den mörderischen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts und der noch andauernden feudalaristokratischen Knechtung des Menschen einerseits und der nationalistischen Verblödung und dem kolonialistischen Blutrausch des 19. Jahrhunderts leuchtet es auf, das Jahrhundert der Aufklärung.
Ein Moment des Innehaltens in der Geschichte, in welchem das Interesse an der Natur ebenso stark in den Vordergrund rückte, wie die Aufmerksamkeit auf das Menschliche an sich - das Menschliche jenseits kollektiver Zwänge.
Natürlich bin ich nicht so naiv, zu glauben, daß diese neue Freiheit nicht lediglich eine Freiheit für wenige geblieben war. Sie hätte aber eine Freiheit für viele werden können, sie könnte dieses vielleicht heute noch.
Es muß aber die Gegensätzlichkeit der Geistigkeit des 18. und des beginnenden 19. Jhdts. in einen grösseren Rahmen eingebettet werden: Nämlich in den einer graduellen Ablösung des europäischen Denkens vom christlichen Dualismus und Transzendentalismus.
Dieser Ablösungsprozess begann bereits im 15. Jhdt. mit dem Zeitalter der Renaissance und entwickelte sich im 16. und 17. Jhdt. auf dem Hintergrund des protestantischen und rosenkreuzerischen Humanismus einerseits und der Naturforschung andererseits. Was aber war die Essenz dieses Impulses und worin spiegelt sie sich sichtbar wieder ?
Die Kunst der Renaissance verdeutlicht mit ihrer lebendigen Imagination der antiken Gottheiten ein Interesse an der Wirklichkeit der Natur, wie es im 16. Jahrhundert auch die hyperrealistische Malerei Caravaggios zelebriert.
Die künstlerische Gattung des niederländischen Stillebens wie auch die Ästhetik der Naturalienkabinette signalisiert gleichfalls dieses sinnliche Interesse an der Lebendigkeit der Natur. All diese Bestrebungen erlitten durch Gegenreformation und von Klerikern angezettelte Religionskriege einen herben Rückschlag. Aber letztlich ließ sich das Aufblühen eines naturalistisch-ganzheitlichen Weltbildes damit nur verzögern.
Im 18. Jahrhundert mündet dann das emotionale Interesse an der Natur ein in den Versuch, die Natur mittels des menschlichen Denkens zu ergründen. Das war dann die Wurzel der modernen Naturwissenschaft - aber sie war es noch nicht in jener zersplitternden, analytischen Form, wie sie sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickeln würde.

Wenn man der Frage nachgeht, warum Vernunft und Materie in der Blüte des 18. Jhdts so hoch bewertet wurden, muß man die Ergänzung von Gegensätzen in Rechnung stellen, wie sie die Periodizität der europäischen Geschichte in immer wieder neuen Variationen wiederspiegelt.

Das hemmungslos mißbrauchte Vertrauen, wie es ein Zeitalter des Glaubens kultivierte (ob nach römischer als auch lutherischer Manier) musste zwangsläufig einen Aufschrei nach philosophischer Logik und Einsicht als natürlichem menschlichem Erkenntnismittel zur Folge haben.

So war der "Rationalismus" nur der notwendige Versuch, den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten erneut auszustatten - entgegen der kirchlichen Irrationalität, die den Menschen auf gefühlsmäßige Überzeugungen begrenzte.

Die Erkenntnis der umfassenden Fähigkeiten des biologischen Wesens Mensch führte zum Humanismus, zum Kult des Menschlichen als zentraler Instanz des Erkennens und Erlebens im Gegensatz zum Menschen als Anhängsel eines klerikalen Kollektivs. Die Betrachtung des Menschlichen führte auch dazu, kirchliche Mythen wie die elementare Verwerflichkeit des Menschen zu relativieren.

Diese wirklichkeitsnahe Sichtweise des Menschen wäre aber nicht möglich gewesen, ohne das gleichzeitige Interesse an der Natur, das die Welt als ein System von Abhängigkeiten verschiedener Pflanzen, Tiere sowie klimatischer und geographischer Gegebenheiten interpretierte.

Diese Sichtweise der Welt als eines Systems umfassender Zusammenhänge zwischen einzelnen Instanzen wurde von einer interessierten Hyperspiritualität denunziert - indem sie es auf die blosse Existenzfeststellung ihrer Teile reduzierte und damit als "Materialismus" apostrophierte.

Was sich in Form des skizzierten Prozesses vom Ende des 15. Jhdts. bis zum Ende des 18. Jhdts (also in nahezu 300 Jahren !) herausbildet, ist der Begriff der Natur. Dieser Erkenntniswille beginnt mit den naturreligiösen Gemälden Boticellis und endet (zunächst) mit der Naturphilosophie Goethes sowie der Anerkenntnis der mentalen Eigenständigkeit des menschlichen Bios in den Grundsätzen Kants.

Dabei zeigt sich eine Doppelbödigkeit des Naturbegriffs, die das Zusammengehörige von gedanklicher Erkenntnis (Philosophie) und spiritueller Bildekraft (Mythos) belegt: Natur ist einerseits ein Begriff, mit dem die detaillierte Beschreibung des Kosmos generalisiert wird - andererseits ist mit der "Mutter" Natur als Göttin eine sinnlich angesprochene Gestalt benannt, deren kultisch-religiöse Wertigkeit kaum zu leugnen ist.

Das Interesses an der Natur und die Einbettung des Menschen als eigenständiges Wesen in sie hinein ist also kein "Exzess von Rationalismus und Materialismus". Es ist vielmehr das Aufscheinen einer völlig neuen, völlig anderen Spiritualität, nämlich einer innerweltlichen Bewertung des Geistigen, des Göttlichen.

Es wirft folglich ein seltsames Licht auf eine spiritualistische Denunziation des Naturalismus, ihn einer Opferung aller höheren ethischen Werte zugunsten einer „primitiven" Instinktivität zu bezichtigen.
Naturalismus verstanden als amoralisches System unterstellt der Natur Zweckdenken, Erbarmunglosigkeit und Brutalität - eine Interpretation, die von Kritikern des Darwinismusm, wie z.B. Reinhard Eichelbeck brilliant widerlegt wird.

Beleuchten wir kurz einige Etappen dieses Prozesses anhand konkreter Quellen, Personen und ihrer Gedankengänge:

Bereits in der Aufbruchszeit der Aufklärungsphilosophie von ca. 1690 bis hin zur Mitte des 18. Jhdts. entwickelt sich die sogenannte Physikotheologie, in der die Betrachtung der Natur als eine Form der Erkenntnis des Göttlichen gesehen wurde (s. Alt, S. 34 ff.).
Einer der markantesten Vertreter dieser Richtung war der Hamburger Ratsherr und Poet Barthold Heinrich Brockes (1680-1747), dessen begeistertes Gotteslob in Form ekstatischer Naturempfindungen zum Ausdruck kommt - keine Spur von Jenseitskult, aber auch keine Spur eines Kultes der reinen Vernunft !
Eine kurze Kostprobe aus einem Gedicht von Brockes über die Erde:

„Kurtz, es ist der Bauch der Erden/ Ganz mit Wundern angefüllt/ Und kann nicht gezählet werden/ Was ihr dunkler Schoß verhüllt. / Viele Weisen, die drauf achten,/ Und die Seltenheit betrachten/ Geben ganz erstaunet für/ Sie sey ein beseeltes Thier./  Dem zu Folge sie denn schliessen/ Dieser Strom und Quellen Fluth/ Sey des Erden-Körpers Blut/ [...]/ Ihres Körpers Fleisch soll Leimen [Lehm]/ Ihre Knochen, Fels und Stein/ und das Laub auf Sträuch´ und Bäumen/ ihre Zier und Haare sein;/Unsre Luft, die aus dem Boden/ stetig duftet sei ihr Oden/ Ihr Geseufz sey Sturm und Wind/ So man oft mit Furcht empfindt".

Diese Grundgedanken, die schon Brockes beseelten, beschäftigten auch noch ein halbes Jahrhundert später eine junge Frau, die zur Bekanntschaft des aufklärerischen Philosophen Moses Mendelssohn gehörte. Am 24. Dezember 1785 schreibt ihm Sophie Becker einen Brief:
„Sie fühlt eine Leere im Herzen und begreift sich nicht mehr; der Gedanke „Gott" bedeutet ihr immer weniger, nur „bei der Betrachtung der Natur und der manngfaltig wirkenden Kräfte" kann Sophie noch „bewundern, erstaunen und verstummen" (Knobloch, S. 426).
Ein Jahr zuvor war ein seltsames Buch erschienen, dessen Erstausgabe in Paris 1781 zu verzeichnen war: „Der fliegende Mensch" von Retif de la Bretonne. Es schildert auf naive Weise die Begründung einer idealen Gesellschaft, beinhaltet also eine Art literarischer Utopie. An einem bestimmten Punkt kommt dann die Religion jener utopischen Gesellschaft zur Sprache:

»Noch habt Ihr mir nichts von Eurer Religion gesagt, mein Herr.«

»Um Verzeihung, aus dem Begriffe, den ich Euch vom göttlichen Urprinzip gegeben habe, habt Ihr abnehmen können, wie unsere Religion beschaffen sein müsse"

»Aber worin besteht Euer Gottesdienst?«

»In einem einzigen Punkt: Im Gebrauch unsrer Organe, auf eine den Winken der Natur angemessene Art: nichts zu übertreiben, nichts zu vernachlässigen.«

»Ihr habt also keine Tempel?«

»Doch (auf die Erde zeigend), hier ist er: Viermal im Jahre, bei den Sonnenstillständen und Tag- und Nachtgleichen versammeln vier allgemeine Feste die Nation; und der bejahrteste unter den Alten bringt unsere Ehrerbietung erst der Mutter Erde alsdann Vater Sonne dar. Drauf richtet man ein gemeinschaftliches Gebet an beide, um unsre fromme Ehrfurcht dem höchsten Wesen darzubringen. Diese drei Gebetsformeln lauten also:

1. 0 Erde, gemeinschaftliche Mutter, mächtige Tochter der prächtigen Sonne, wir, deine Kinder, haben uns versammlet, um dir unsre kindliche Ehrerbietung darzubringen. 0 heilige Erde, gemeinschaftliche Mutter, ernähre uns!

2. Prächtige Sonne, Vater des Verstandes, des Lichtes und der Wärme, der Bewegung und des Lebens, Sohn Gottes, Vater und Gatte der Erde, unsrer Mutter, wie die Kinder deiner erhabnen und ehrwürdigen Tochter - Gattin, Erde, wir sind versammlet, um dir unsere kindliche und ehrfurchtsvolle Gehorsamsbezeigung zu bringen.
O heilige Sonne, belebe uns!

3. Fruchtbare Erde! Zeugende Sonne, Kinder des großen Gottes, der euch Dasein, Verstand und Zeugungskraft gegeben hat, um den Überfluß eures Lebens den Menschen, Tieren und Pflanzen mitzuteilen, erhabene und mächtige Gottheiten, bringt unsere Ehrfurcht mit der eurigen vereinigt eurem göttlichen Vater dar, damit er uns in und durch euch segne. Ehre sei der Mutter Erde! Ehre dem Vater Sonne ! Tiefe Anbetung dem höchsten Wesen, dem allmächtigen allumfassenden Vater des Ganzen.

Die Nation wiederholt die letzten Worte-. Ehre der Mutter Erde usw. Welch zärtliches Gefühl haben nicht diese heiligen Worte dem Munde unsres zweihundertundzwanzigjährigen Alten, unterstützt von zwei andern, einem von zweihundertundneunzehn, dem andern von zweihundertundzehn Jahren, hervorgebracht! ... Drauf folgen Feierlichkeiten, Spiele, Tänze und Vergnügungen aller Art; denn wir nehmen den Grundsatz an, daß Freudigkeit die wirksamste  Art sei, die Gottheit, die Sonne, unsern Vater, und die Erde unsre gemeinschaftliche Mutter, zu ehren."

Die Spuren naturreligiöser Denkweise, die das 18. Jahrhundert aufzuweisen hat, führen aber nicht nur  hinaus in die große Natur um uns herum. Es ist auch der Gedanke einer spezifisch menschlichen Natur im tierischen Sinne, den man der christlichen Vorstellung gegenüberstellt, daß der Mensch aus einer höheren Welt komme, und zur Natur in Distanz stehe.
Jean-Jacques Rousseau: „Nehme ich nun diesem Geschöpf alle übernatürlichen Gaben, die es empfangen hat, und alle künstlichen Fähigkeiten, die es nur infolge großer Fortschritte erwerben konnte, und betrachte es so, wie es aus den Händen der Natur hervorgegangen sein muß, dann sehe ich ein Tier vor mir, das von einigen an Stärke, von anderen an Schnelligkeit übertroffen wird, das aber, im ganzen genommen, am vorteilhaftesten von allen ausgerüstet ist" (Rousseau, S. 124). Und weiter: „...Welch verheerende Folgen haben die Zerrüttungen und Erschöpfungen des Geistes, der Ärger, der Verdruß und die Sorgen, von denen kein Stand frei ist und die uns ständig an der Seele nagen. Dies alles sind die traurigen Beweise, daß die meisten leiden, die uns widerfahren, von uns selbst verursacht wurden und daß wir sie alle hätten vermeiden können, wenn wir so einfach, gleichförmig und allein lebten, wie es uns die Natur vorschreibt. Hat uns die Natur dazu bestimmt, gesund zu sein, so wage ich zu behaupten, daß das Nachdenken ein widernatürlicher Zustand und ein Mensch, der sich in Betrachtungen vertieft, ein aus der Art geschlagenes Tier ist" (Rousseau, S. 129).
Ich frage die spirituell Interessierten der Gegenwart, z.B. Zen-Buddhisten oder Schamanistisch Tätige, ob sie schon jemals eine derartig schlichte Darlegung unserer Probleme und ihrer Lösungen in einem jener unsäglichen esoterischen Schinken gelesen haben !?
Jedenfalls hatte der Glaube an etwas ursprünglich Natürliches im Menschen Wurzeln geschlagen im europäischen Denken, wie es auch Friedrich v. Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts" im Jahre 1795 deutlich zeigt: Hier erklärt er uns, daß eine gerechte gesellschaftliche Ordnung wieder möglich werden könnte, wenn „...die Trennung in dem inneren Menschen wieder aufgehoben und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen...Die Natur zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg vor, den man in der moralischen zu wandeln hat".
So, wie im modernen Tantrismus und in der Sexualtherapie das naturreligiöse Interesse konkrete Formen annimmt, war es auch damals - wenngleich auch in einer teils verzerrten, teils humoristisch bis absurden Gestaltungsweise.
So läßt schon erwähnter Retif de la Bretonne in seiner „Anti-Justine" die Teilnehmer einer Orgie deklamieren, nachdem sie die Gestalten des Neuen Testaments in einem pornographischen Kontext verballhornt hatten: „Ja...das nennt man die wahre Naturreligion erfassen und die Gottheit anbeten, wie es ihr zukommt, indem man sie um vernünftige Dinge anfleht."
Und der Marquis des Sade (1740-1814) läßt in der „Juliette" eine seltsame orgiastisch-satanistische Geheimgesellschaft Folgendes proklamieren: „Die Gesellschaft leugnet Gott. Man muß einen Beweis seines Atheismus liefern, um eintreten zu können. Der einzige Gott, den die Gesellschaft kennt, ist die Lust. Sie opfert alles diesem Gotte. Sie biligt alle denkbaren Lüste, sie heißt gut, alles was entzückt. Alle Wollüste sind in ihrer Mitte geheiligt." (de Sade, S. 373).

Der Versuch der Kleriker und Feudalaristokraten, diesen Erkenntnisprozeß des Menschen über sich selbst aufzuhalten, führte erst zu Antiklerikalismus und revolutionärem Umsturz. Die absolutistische Arroganz in ihrer hemmungslosen sozialen Blindheit war die Mutter der Guillotine und ihres mörderischen Treibens. Ob 1789 oder 1917.

Nun passierte ein Unglück: Die europäischen Menschen verspürten das Gewaltsame ihrer Impulse - und schreckten davor zurück, ihnen bis zur letzten Konsequenz nachzugehen: Das Zeitalter der Restauration, der nationalistischen Legendenbildung und des romantisierenden Rückzugs war geboren. Industrialisierung und Kapitalismus erhoben ihr stählernes Haupt. Und wenige Jahrzehnte später folgten Spiritismus, Theosophie und die Natur vergewaltigende Ritualmagie.

Das 19. Jhdt. war gekennzeichnet durch eine rein logische und automatistische Wissenschaft (Erkenntnis der Welt durch Auflösung in ihre Teile) einerseits und einen exzessiv irrationalistischen Okkultismus andererseits.

Die Zerstörung der ländlichen Sozialstruktur hatte die Bildung von nationalistischen Ursprungsmythen zur Folge, die künstliche Identitäten zu erwecken half. Nicht mehr die sinnliche Wahrnehmung der Welt war interessant, sondern das Vorstellungsvermögen in Bezug auf die Vergangenheit. Und in diesem Sumpfe begannen sich die Wurzeln dessen zu bilden, was wir als Neuheidentum bezeichnen.

Literatur:

Peter-Andre Alt: Aufklärung - Stuttgart/Weimar 1996

Retif de la Bretonne: Der fliegende Mensch, herausgegeben von Klaus Völker, Frankfurt a.M./Berlin 1986

Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott - Naturlyrik und Lehrdichtung; Ausgewählt und herausgegeben von Hans-Georg Kemper, Stuttgart 1999 - ISBN 3-15-002015-8 - Reclam, 13.00 DM

Reinhard Eichelbeck: Das Darwin-Komplott, Aufstieg und fAll eines pseudowissenschaftlichen Weltbildes, C.Bertelsmann-Verlag 1999

Heinz Knobloch: Herr Moses in Berlin, (Ost)-Berlin 1979

Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1753), in: Frühe Schriften, (West)-Berlin 1985

Donatien-Aldonze-Francois de Sade: Juliette oder die Wonnen des Lasters - Erstes Buch, Köln 1995

Webewölfin: Brockes - ein Wegweiser zu natürlicher Spiritualität, in: Der Hain, Online-Magazin für natürliche Religion und gesellschaftliche Veränderung, Rubrik „Lesenswerte Bücher"

Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 1987