Auf der Suche nach den Göttern - Fortschritte und Tücken der Menschwerdung

Wenn wir die Geschichte der Religionen betrachten, so scheint es uns manchmal vorzukommen, wie in einem großen Gewächshaus. Eine derart erdrückende Vielfalt von Blattformen, Blütenfarben und Wuchsgestalten verwirrt unsere Sinne, daß wir resigniert die Augen schließen möchten und denken: Ach, möge doch jeder nach seiner Facon selig werden.
Macht man sich aber die Mühe, statt einer derartig großzügigen Beliebigkeit genauer hinzuschauen, so wird man doch charakteristische Unterschiede erkennen. Da sind zum Einen die großen, von Männern gestifteten Religionen, die, alle in einem Zeitraum von ca. 1000 Jahren entstanden, mit vielen Argumenten, bewaffnet mit ihren heiligen Büchern, um die Seelen der Menschen kämpften.
Ob wir nun an Lao-Tse oder Zarathustra denken, an Moses oder Buddha, an Christus oder Mohammed.
Können wir solchen "Menschheitslehrern" wie Lao-Tse oder Buddha noch gewisse Sympathien abgewinnen, weil wir an ihnen eine menschenfreundliche Ader erkennen, so ergeht es uns mit Zarathustra, Moses, Christus oder Mohammed schon anders.
Letztgenannte predigten ihren Anhängern den Glauben an einen Vatergott, der Gehorsam und Unterwerfung verlangte. Da ist das vorherrschende Bild der gläubige Mensch als Kind oder Schaf und der alte Gott als Erziehungsberechtigter eines unmündigen Wesens.
Einen freien philosophischen Diskurs kannte man damals nicht. Gehen wir durch die "heiligen Schriften" der Vatergottverkündiger, so treffen wir weniger auf Argumente. Vielmehr ist die Rede von Versprechungen und Belohnungen einerseits, wenn die Menschen bereitwillig seien, andererseits bestimmte Befehle, Anweisungen und Verbote einzuhalten.
Den Gehorsamen erwartete so die Erfüllung der Versprechungen, denjenigen, die sich nicht an die Gebote zu halten bereit waren, wurden Drohungen von körperlicher Strafe bis hin zu ewiger Vernichtung zuteil. Wir sehen, daß die Anhänger des Vatergottes mit dem Mittel der Hoffnung oder der Angst arbeiteten. Je schärfer die Drohungen bei Gehorsamsverweigerung und die Härte der Gebote, desto größer mußte aber in jedem Fall die Angst der Gläubigen sein.
Wir werden uns, sofern unser Geist noch frei und offen geblieben ist, die Frage stellen, wo bei einem Gott als Vater denn die Mutter, die Kinder, die Geschwister und die Großeltern geblieben sind.
Diese naive aber vollauf berechtigte Frage kann uns die Religionsgeschichte heute recht gut beantworten. Sie klärt uns darüber auf, daß es in den Zeiten vor der Entstehung der großen Stifterreligionen viele Kulte gab, bei denen jeweils Göttinnen und Götter verschiedener Wesensart verehrt wurden. Diese Göttinnen und Götter standen meist in familiärem Zusammenhang in Form von Großfamilien und Stämmen und verkörperten zugleich bestimmte Naturkräfte.
Wir haben keine große Mühe, in der Ablösung dieser älteren Religionen durch die Vatergott-Kulte einen Prozeß der Verarmung zu erkennen, bei dem die Vielfalt des Lebendigen zugunsten einer künstlichen Einfalt verloren ging.
Es geht aber dabei noch um wesentlich mehr. Wenn wir ganz unkompliziert die Wesensart solcher Gottväter wie Ahura Mazda, Jahwe und Allah betrachten, so fällt uns das Diktatorische, das Tyrannische an ihnen auf. Wir werden nicht umhin können, in diesen Gestalten auch eine Widerspiegelung der menschlichen Beziehungen jener Zeiten zu erkennen und der Art und Weise, wie ihre politische Lebensgestaltung strukturiert war.
Lesen wir ältere Mythen aus der vorherigen, "polytheistischen" Ära der Religionen, so erfahren wir, daß an den Geschehnissen der Götter, Heroen und Menschen die unterschiedlichsten Wesen ihren Anteil hatten. Es traf nicht nur Einer die Entscheidungen, sondern mehrere Göttinnen und Götter und auch oft Mächte aus dem Hintergrund (wie z.B. die Nornen oder Parzen) wirkten auf das Weltgeschehen wie auf das individuelle Schicksal ein.
Auch treffen wir auf die Tatsache, daß einzelne Gottheiten oder Menschen oder Wesen der Natur etwas für sich entscheiden, ohne vorher den Stammesvater um Erlaubnis zu fragen oder sich nach seinen Weisungen zu richten.
Wir müssen uns öfter der alten Mythen erinnern, um uns darüber klar zu werden, wie ungeheuer groß die Veränderung durch die monotheistischen Religionen von Ahura Mazda (Zarathustra i. Persien), Aton (Echnaton i. Ägypten), Jahwe (i. Israel) und Allah (i. Arabien) gewesen sein muß.
Die Situation war ganz einfach die, daß ein einzelner Mensch überhaupt keinen Eigenwert und kein Recht mehr in sich hatte, wenn er nicht den Weisungen gehorchte. Das Ergebnis war nicht nur eine Entmenschlichung, sondern auch ein vollkommener Verlust des Selbstvertrauens, des Selbstwertgefühls. Diese Religionen führten im Zusammenhang mit der Beseitigung der vielen Götter auch zu einer Verneinung der lebendigen Natur in ihrer Vielfalt. Verbunden sein mußte damit in jedem Fall eine Knebelung der Lebenskräfte, ihre Einengung und letztlich Verschüttung. Wir wollen hier nicht intensiver auf die Ursachen dieses ganzen Vorgangs eingehen, nur andeuten, daß es offensichtlich mit der zentralasiatischen und arabischen Wüstenbildung zu tun hatte und mit der dadurch einhergehenden Ersetzung matriarchaler Gemeinschaften durch patriarchale Herrschaftsformen.
Natürlich wehrten sich die Menschen dagegen. Eine der "Widerstandsbewegungen" dagegen war die Mystik. Sie geht eben davon aus, daß das Göttliche im Innern des Menschen seine Wirksamkeit entfaltet, also jeder Mensch Träger einer göttlichen Kraft ist. Diese Lehre konnte den Anhängern des Monotheismus gar nicht recht sein, verlegte sie doch das Zentrum der Aufmerksamkeit vom Oberpriester als Repräsentanten des Vatergottes auf die eigene Seele der Menschen. Das gab den Menschen ein Gefühl innerer Stärke und machte sie den angsterregenden Drohgebärden des Gottvaters unzugänglich.
Der Nachteil besteht nur darin, daß die Mystiker sich ganz in sich selbst zurückziehen und den lebendigen Kontakt zu ihren Mitmenschen aufgeben.
Charakteristisch war für die Systeme der Vatergottreligion noch Folgendes: Es entstanden streng hierarchisch geprägte Priestertümer, in denen die Macht nach dem Maß des Gehorsams und der Folgsamkeit der Hierarchiemitglieder verteilt war. Es entstand ein Dogmatismus, weil die Lehren der Priester durch ihre Widersprüchlichkeit gegenüber der Natur spontanem Begreifen und Erkennen nicht offen standen: Sie mußten außerdem in fester Form dargeboten werden, damit über einheitliche geistige Inhalte eine durchgehende geistige Kontrolle der Massen möglich wurde. So wußte der Oberpriester stets, was der Einzelne glaubte, was in seinem Kopf vor sich ging. Und nun waren die Priester als Bevorrechtigte alles Männer, wie auch der Vatergott selbst, ihr großes Vorbild. So gehörte auch der Frauenhaß zu den festen Bestandteilen dieser geschichtlich ganz neuen Religionen.
 Der Widerstand der Menschen half nicht viel - denn ein Volk nach dem andern wurde zwangsweise "bekehrt" und die Freiheit, die Liebe zur Natur und die Lebensfreude sanken in Schutt und Asche. Das ist die traurige Geschichte der Menschheit in den letzten 3000 - 4000 Jahren.
Die Vorstellungen der Vatergottreligionen fraßen sich hinein in die Gemeinschaftsformen: Der König, der Familienpatriarch oder der Feldherr nahmen allmählich die Rolle des Vatergottes ein. Der einzelne Mensch selbst trug in sich das Bild dieses Vatergottes als ständige Drohung. Das war sein sogenanntes höheres oder besseres Ich, sein Gewissen, die quälende innerseelische Bevormundung all seiner Empfindungen, Gedanken und Taten. Das stand dann ständig im Gegensatz zu seinem Seelenkern, seiner Seelentiefe oder dem "Selbst".
Seit der Zeit der Renaissance, dann der französischen Revolution und dann der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in mehreren Wellenbewegungen, wurde immer stärker Kritik an diesen Religionen deutlich. Viele Menschen begannen sich der alten Mythen der vielen Götter zu erinnern, viele Frauen begannen zurückzudenken an die Göttin Erde und ihre Segnungen. Die Leute wollten endlich die Angst der Jahrtausende abschütteln, denn sie spürten die göttliche Kraft ihrer Seele, sie empfanden die unendliche Schönheit und Vielfalt der Natur.
Nun passierte etwas sehr Seltsames und nun wird es wirklich spannend !
Um sich nämlich von den Angst-Kulten mit den ollen Vatergöttern zu befreien, versuchten die Menschen, viele neue Religionen zu begründen, die ihre neuen Sehnsüchte auch zum Ausdruck bringen sollten. Bewegungen, die man als Okkultismus, Pantheismus, Naturalismus und Heidentum bezeichnete, entstanden. Aber irgendwie steckte das machtvoll drohende Bild des Vatergottes doch noch in ihnen. Und so nahmen sie z.B. die alte vorchristliche Religion der Germanen wieder auf und ihr Blick heftete sich auf die Gestalt des alten, väterlichen Gottes namens Wotan. Sie schienen vergessen zu haben, daß neben diesem Wotan eine Göttin namens Frigga saß, daß dieser Gott viele Söhne hatte, die machten, was sie wollten und ihre eigenen (und eigensinnigen) Frauen hatten, daß es daneben noch viele Göttinnen gab, die das Schicksal lenkten und daneben die alten Thursen als völlig unberechenbare Kräfte der Natur.
So genau guckten die Leute gar nicht erst hin. Wie bei einer Laterna Magica leuchteten sie mit dem kleinen Jahwe in ihrer Heldenbrust nach draußen auf Wotan, bis auf dem Antlitz Wotans das Lächeln Jahwes erschien: Da war er wieder, der Einzige, Alleinige, Herrscher Himmels und der Erden.
 Die Selbstbefreiuung namens "Heidentum" war mißlungen. Und die Gestalten, die den alten Vatergott sowieso schon im Volke verkörperten, die Feldherren, Unternehmer, Oberlehrer, "Wissenschaftler" und ihre Untergebenen fühlten sich als Stellvertreter Wotans auf Erden.
Nicht viel besser ging es im Okkultismus zu. Hier tauchte der Vatergott gleich im Plural auf: die "Väter" erteilten Weisungen, offenbarten ihre Geheimnisse, schufen Tempel und Logen, in denen "Auserwählte" mehr Macht haben sollten als andere Menschen und in denen Rituale praktiziert wurden, in denen man menschliche Angst wie am laufenden Band produzierte.
So war auch dieser Befreiungsversuch größtenteils mißlungen. Das schlimmste aber war ja, daß die Menschen tatsächlich glaubten, hier sei etwas schönes neues, Zukunftsweisendes passiert. Sie dachten: Die Zeit des Christentums und des Judentums ist vorbei. Laßt uns Theosophen, Anthroposophen, Rosenkreuzer, Wotansanbeter, Armanen oder Druiden sein - das ist die Devise des neuen Zeitalters.
Trotzdem waren geblieben: die Vatergötter mit Rauschebart, oft noch verkörpert durch menschliche Platzhalter, die Lehren vom guten Geist und der bösen Natur, die eingeweihten Cliquen von "besseren" Menschen, die Angst vor falschem Verhalten etc. pp.
Sie hatten alle nicht genau hingeguckt: Nicht die alten Mythen mit ihrer anarchischen Freiheit , den Göttinnen und Göttern studiert, die Theosophen und andere Okkultisten hatten nicht die Veden selbst gelesen, sondern albern-dünne Aufgüsse davon, die Anthros vergaßen über den heiligen Worten des Dr. Steiner ihren eigenen Kopf.
Sie waren alle wieder in die Falle des Einen Großen Vatergottes und seiner Horde gegangen - denn dieser Gott hatte seinen Stützpunkt, seine Stiftshütte im Mittelpunkt ihres Herzens aufgeschlagen. So waren sie gefesselt von seiner Autorität, gebeugt vor seinem Thron, beschnitten in ihrer Würde.
In den Zwanziger Jahren gab es dann neue Varianten dieses Vorgangs: Ein neuer Mythos von Auserwähltheit entstand: Wie vorher die Leviten oder Kardinäle bildete sich eine Klasse von Menschen, die behauptete, mit besonderen körperlichen Merkmalen auch ein besonderes Vorrecht auf Herrschaft verbinden zu können. Wer blonde Haare und einen langen Hinterkopf hatte, sollte besser, klüger und schöpferischer sein, als andere ! Nicht mehr die Vielfalt der Natur war ihre Devise sondern der alte Tempelglaube von der bevorrechtigten Menschenkaste. Dazu bildeten sie den alten Vatergott auf neue Art und Weise ab und nannten ihn "Führer" oder "Duce". Statt den Riten der Beschneidung gab es den Kultus der kriegerischen Tapferkeit. Die Angst blieb die gleiche, sie blieb erhalten.
Wie diese Geschichte wohl weitergeht ?  W i  r  schreiben sie alle !
Wann immer das Bild d e s  Meisters an der Wand klebt, wann immer man Euch von den anderen Menschen zu trennen versucht mit der Verheißung, mehr Macht und mehr Wissen zu erlangen, wann immer man Euch einzureden versucht, ein bißchen Angst mache Euch kräftiger, wann immer man Euch suggeriert, in Eurem Herzen gäbe es nix, was nicht auch der Zauberstab des Kommandanten zeige, wann immer man Euch lehrt, die "wahre" Welt sei nicht die Welt der Bäume, Blumen, Vögel, Fische, Berge, Flüsse und leuchtenden Sterne -  lachet, meine Brüder und Schwestern, lachet mit dem schallenden, brüllenden Lachen des Pan, bis den schwarzen Brüdern des Herrn Hören und Sehen vergehe - und dann: Laßt sie allein in ihren dumpfen Tempeln, um Euch in die unendliche Weite Gaias zu verströmen !
                                                                 Frater Ginnungagap Atman
 

Blicken wir auf die über tausendjährige Geschichte unserer europäischen Zivilisation zurück, so sehen wir, daß das europäische Ideal seelischer Erziehung und Behandlung eine auf Anerkennung der Elternimagines beruhende patriarchalische Ordnung war und zum großen Teil noch ist. Wir haben daher auch beim Einzelnen, unbekümmert darum, wie revolutionär sein Bewußtsein eingestellt sein mag, mit einer patriarchalisch oder hierarchisch eingestellten Psyche zu rechnen, welche instinktiv diese Ordnung festhält oder wenigstens sucht.
    C.G. Jung: Die Psychotherapie in der               Gegenwart, 1941