Ethnomanie - ein erkenntnistheoretischer Defekt in der neuheidnischen Bewegung ?

Ob explizit ausgesprochen oder verklausuliert und letztlich unausgesprochen: Weite Teile der neuheidnischen Szenerie huldigen einem theoretischen Konstrukt, das auf schwerwiegenden Fehleinschätzungen historischer, kultureller und religiöser Grundideen beruht. Ich möchte dieses theoretische Konstrukt als „Ethnomanie" bezeichnen.
Letztlich huldigen sowohl völkischeGruppe wie die Artgemeinschaft oder der Armanenorden dieser Doktrin - aber auch von einem scheinbar objektiven Interesse an einer Kultur Beflissene wie Asatru oder Keltoi müssen Überlegungen zwangsläufig von ähnlichen Denkgewohnheiten  ableiten - auch wenn sie es nicht offen zum Ausdruck bringen wollen.
Worin besteht nun die ethnomanische Doktrin genau ?
Sie geht letztlich davon aus, daß in einem religiös ursprünglichen  Bereich eine vollkommene Einheit von drei Faktoren besteht und daß jeder dieser Faktoren in der Zeitdimension unverändert ist.
Es handelt sich um eine vorgebliche Einheit von Sozialstruktur, geographischem Raum und religiös-kulturellen Einstellungsgewohnheiten.
Dies führt dazu, daß sich Menschen der Gegenwart als Erben einer Religion bestimmter menschlicher Gruppen der Vergangenheit fühlen, die vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden auf ihrem gegenwärtigen Territorium lebten.
Der stets vorgehaltene Grundsatz bestimmt, daß nicht nur jedes der drei Elemente ein hohes Maß an Unveränderlichkeit, innerer Einheit und Gebundenheit aufzuweisen hat - auch alle drei Elemente miteinander werden in einer Einheit gesehen, die im Gegensatz zu Veränderlichkeit und fließender Entwicklung ihre Beständigkeit, Geschlossenheit und letztlich Starre postulieren.
I.  Unter dem Begriff Sozialstruktur wird hier nicht nur eine bestimmte soziale Lebensform, wie der Stamm, die Sippe oder das Volk verstanden. Es wird auch von einer über Jahrtausende unveränderlichen biologischen Substanz ausgegangen, die jene sozialen Formen als grundlegend konstituiert und an denen man durch Abstammung selbst partizipiert.
II.  Der geographische Raum ist ein mehr oder weniger großes Territorium, dem eine Einheit in der Beschaffenheit der Natur unterstellt wird - wie könnte sonst die Unterschiedlichkeit des Naturreligiösen als Merkmal der Getrenntheit gegenüber anderen Sozialstrukturen figurieren ?
Zugleich wird davon ausgegangen, daß die Beschaffenheit der Natur (Flora, Fauna, Klima, Landschaftsbeschaffenheit) in der Zeitdimension unverändert geblieben ist: Anders wäre die innere Beziehung des Gläubigen zum naturreligiösen Empfinden eines Menschen diese Raumes vor 2000 Jahren nicht nachvollziehbar.
In der Regel kommt zu diesen Kriterien schließlich auch noch eine besondere Beziehung des Gläubigen zu seinem Territorium: Das des Besitzanspruchs, welches den Besitz anderer Ethnien an eben diesem Territorium ausschließt.
Letztlich ist die ganze „Spiritualität des Territoriums" eine popularisierte Anleihe bei der darwinistischen Idee der Anpassung einer Art an einen bestimmten Lebensraum.
III.  Die „religiös-kulturellen Einstellungsgewohnheiten" umfassen Bräuche und Riten, aber auch mythologische Systeme („Unsere Götter") sowie spezifische Formen der Ethik.
Ich weiß nicht, ob sich schon einmal jemand versucht hat. vorzustellen, wie eine nach diesen Grundsätzen existierende Kultur in der Realität darstellen würde. Ihr hauptsächlicher Antrieb wäre die vollständige Abtötung jeglicher Lebendigkeit - denn schließlich bedeutet LEBEN: sich bewegen, sich verändern. Etwas gab und gibt immer in der Geschichte Impulse, dem Lebensprinzip enztgegenzuwirken: Denken wir an die Pharaonen mit ihrem Glauben, den physischen Körper unzerstörbar machen zu können. Oder die Idee großer Herrscher, unzerstörbare Bauwerke und Städte schaffen zu können. Die Vergeblichkeit des Versuchs, unzerstörbare Formen für die Ewigkeit zu erhalten- ob organisch, architektonisch oder literarisch ist die herausragende Torheit patriarchalischer Hochkulturen.
Die Erkenntnis dieser Vergeblichkeit hingegen ist eine der wesentlichen Erkenntnisgewinne neuheidnisch-naturreligiösen Denkens.
Gehen wir also nun die drei Elemente der ethnomaischen Doktrin noch einmal durch und konfrontieren sie mit der Realität:
I.  Es gab allein in den letzten viertausend Jahren für uns halbwegs historisch nachvollziehbar, so viele Wanderungsbewegungen menschlicher Gruppen von einem Teil unseres Planeten zu einem anderen, daß von einer in sich geschlossenen Population nicht die Rede sein kann. Allein die Wanderungen zwischen Europa und Asien, Nordeuropa und Südeuropa, Mittelasien und Südostasien bewegen sich wie Quirlstäbe quer durch tausende von Kilometern. Hier hat es allein in den letzten viertausend Jahren kaum eine „Gruppe von Genen" gegeben., die sich geschlossen und unbeeinflußt entwickeln konnte. Ein einfacher Blick in einen Geschichtsatlas genügt, um sich darüber Gewißheit zu verschaffen. Und innerhalb Europas, also z.B. innerhalb Mitteleuropas, ode z.B. innerhalb des Raumes zwischen Adria und der Ägäis ist es genauso !
II.  Wie wir aus der Analyse selbst des Klimas der letzten fünfhundert Jahre wissen, ändert sich das Klima auch innerhalb kurzer Zeiträume. Niederländische Maler des 16. Jahrhunfderts dokumentierten in ihren Gemälden „die kleine Eiszeit", die eine mittelalterliche Phase eines relativ milden Klimas ablöste. Würden wir einen Blick in die Flora Mitteleuopas vor viertausend Jahren werfen können - wir würden dieses Areal nicht wiedererkennen. Allein in den letzten 1.500 Jahren haben sich soviele Obstsorten, Blumen, Sträucher und Kräuter aus dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten in Mitteleuuropa angesiedelt, daß ihr Verschwinden mit einem extremen Gefühl von Fremdheit einherginge. Pflanzen erobern sich Territorien, verschwinden aber auch wieder - je nach menschlicher Kulturbetätigung, aber auch klimatischen Bedingungen. Natur ist an einem Ort nichts, was man einbalsamieren könnte !
Dazu kommt noch: Das Klima ist zwar geographisch unterschiedlich akzentuiert, wenn man z.B. an den erheblich früheren Frühlingsbeginn im Südwesten Deutschlands denkt. Aber lokales Klima zu einem bestimmten Zeitpunkt ist immer Ausdruck eines großräumigen Vorgangs.
III.  Ein Blick in die Edda aber auch in die indischen Veden belehrt uns darüber, daß in ein und derselben Überlieferung sehr unterschiedliche Entwiklungsphasen der Religionsgeschichte konserviert wurden. Denn sonst müßte man davon ausgehen, daß eine bestimmte religiöse Idee einfach plötzlich da ist. Aber die Geschichte nicht nur der letzten zweitausend Jahre sondern auch die innere Geschichte der vorchristlichen Religionen und insbesondere der indoeuropäischen Reigionen ist von Auseindersetzungen zwischen sehr unterschiedlichen Gottesvorstellungen geprägt: Dabei geht es um Herrschaftsverhältnisse (Stammesführerkult versus Demokratie), um Geschlechterverhältnisse (Patriarchalische Großmanssucht versus Anerkennung der besonderen Bedeutung der Frau in ihrem Bezug zum Leben), Natur- und Instinktnähe (Religion der Thursen und Wanen) versus Maßregelung der Natur (Asen, Mithraskult, Brahmanismus).
Alle Dokumente aus der indoeuropäischen Geschichte, aber auch archäologische Relikte, die z.B. eine dramatische Veränderung von Bestattungssitten belegen zeigen deutlich, daß es in den zwei bis drei Jahrtausenden vor der Entstehung des Christentums mindestens ebenso drastische weltanschauliche Kämpfe gab, wie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert.
Es wäre also an der Zeit, sich vom Gedanken einer uveräußerlichen „Nationalreligion" der eigenen ethischen Gruppe zu trennen. Denn damit provozieren wir nur Agressionen und verstellen uns die sinnliche Wahrnehmung der Lebensrealiät. Letztlich stehen die traditionalistischen Gruppen deshalb auf keinem höheren Niveau, als christliche, jüdische oder islamische Fundamentalisten. Deren Ideologie gefährdet mittlerweile die unbeschadete Existenz des Menschen auf der Erde.
Das gilt für Asatru und Keltoi zum Glück nicht - weil ihre quantitative Dimension über sektiererische Miniaturen nicht hinausgeht.
Ja, es ist noch absurder: Während christliche, jüdische und islamische Fundamentalisten sich wenigstens auf existierende, prägende Sozialstrukturen berufen können, schwelgt die traditionsbezogene Romantik weitgehend in fiktiven Rückerinnerungen an scheinbar Gewesenes.
Allerdings ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man sich von der Weisheit vergangener Jahrtausende inspirieren läßt.
Die Weisheit der Edda, der Veden, des Tao-Te-King und der Psalmen ist das geistige Erbe der Menschheit.
Aber wir müssen uns heute die Fragen stellen: Was versetzt mich persönlich in die Lage, mit anderen Menschen zu einem besonderen Ziel zusammenzuwirken ? (Sozialstruktur). Was verbindet mich mit anderen wirklich ?
Wie verbinde ich mein persönliches Schicksal dergestalt mit den besonderen Bedingungen des Lebens und der Natur auf diesem Stückchen Erde, daß ich damit in besonderer Weise der Lebenserhaltung diene ?
Und schließlich: Wer sind die Götter und Göttinnen, die zu meiner Seele so sprechen, daß ich ihre Stimme vernehmen kann - welche Ideen leiten mich bei der Ausübung meiner Religion ?
All diese Fragen sind hier und heute zu beantworten, an dem Ort an dem Du lebst und von Deiner Person - und nicht aus der Perspektive eines Phantoms rauschender Eichenwäder, in denen weißgewandete Priester  unverständliche tote Sprachen deklamieren.

09.09.2002      Matthias Wenger