Matthias Wenger

Wie, aus welchen Erlebnissen, Irrtums- und Erkenntnisprozessen kam ich dazu, die landläufige Deutung von Geschichte kritisch zu hinterfragen ?

Biographischer Erlebnisbericht und Gespräch am

Montag, 05. November 2007 im Berliner Salon für Forschung & Geschichte

Die entschiedne Geschichts- und Geschichtsschreibungskritik glaubt, über eine hohe Legitimation zu verfügen.

So, wie die Geschichts- und Chronologiekritik in Erscheinung tritt, präsentiert sie den Objektivitätsanspruch logikbasierter Kritik als primäres Anliegen.

Jede Theorie und ihre Vetreter verfügen hingegen auch über subjektive Momente persönlicher Beweggründe und Motive.

Persönliche Motive werden in der Regel unerwähnt gelassen - um den Objektivitätsanspruch des Wissenschaftsbetriebes zu imitieren ?

These: Der Objektivitätsanspruch des Wissenschaftsbetriebes verschreibt sich einer mechanistischen Rationalität - damit steht er im Konflikt mit den humanistischen Impulsen seiner aufklärerischen Ausgangslage

Persönlich mache ich den Anfang, über meine Beweggründe zu sprechen, um auch andere Referenten und Autoren zu diesem Schritt zu ermutigen.

Ziel: Erreichung eines neuen Kommunikationsniveaus innerhalb der Szene, um die ewig unergiebige Konfrontation unversönlicher Theorien zu durchbrechen.

These: Nur in der Wahrnehmung eines anderen Menschen in seinen persönlichen Motiven ist man in der Lage, ihm den Respekt zu erweisen, der einer freundlichen Kommunikation zweckdienlich wäre.

Meine eigene religiöse Sozialisation fand statt in einer bibelorientierten, christlich-evangelikalen Sondergruppe (Adventisten).

Christliche Fundamentalisten haben einen besonderen Wahrheitsanspruch, die Bibel gilt ihnen als bedeutungsvollste Quelle; Zitat:

"Daß die Bibel ein Lehrbuch für alle Menschen, und zwar für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sein soll, ist Gottes eindeutiger Wille....Das Studium der Heiligen Schrift ist das von Gott verordnete Mittel, Menschen in engere Verbindung mit ihrem Schöpfer zu bringen..." Ellen G. White: Der große Kampf, Hamburg, ca. 1960, S. 69).

Ihre religionsgeschichtstheoretischen Ausgangspositionen spiegeln sich etwa in dem wider, was Gustav Tobler in seinem Werk "Unser Ruhetag" (Zürich, ca. 1970) schrieb; Zitat:

"Israel hat seinen Gottesglauben nicht von den Nachbarvölkern übernommen, sondern von der Schöpfung her überliefert erhalten .."(S. 29), "...Wenn wir uns der frühen Religionsgeschichte zuwenden, stehen wir vor einer Entwicklung der Vielgötterei gegenüber dem anfänglichen Glauben an den einen Gott..."(S. 32)

Sind diese Positionen der radikalen Abwertung des Nichtchristlichen im Zusammenhang des westlichen Geschichtsbildes und der westlichen geschichtlichen Identität verallgemeinerbar ?

Oder handelt es sich bei meiner evangelikalen Sozialisation um einen biographischen Sonderfall, der kein allgemeines Interesse verdient ? Ich meine, das Gegenteil ist der Fall.

Zitat:

" Dass sich seit 1400 nach dem Vordringen islamischer Herrschaft im christlich verbleibenden Europa viele Städte von solchen Gruppen bedroht fühlten und die Abgrenzung von ihnen nach innen und außen für die Konsolidierung des Abendlandes eine hohe Bedeutung hatte, zeigen die Bezeichnungen für Zigeuner...Wie alle volksreligiös bestimmten Staaten waren auch die christlichen an der Religion als Einheitsband für die Bevölkerung ihres Territoriums interessiert. Als Gegenleistung haben die Kircheninstitutionen, um den Grundsatz >Die Kirche vergießt kein Blut< wenigstens formal durchzuführen, von Beginn des Staatskirchentums im 4. Jahrhundert an die weltliche Gewalt um Hilfe gegen Zersetzung durch >Ketzer< aufgefordert. Die um 1200 päpstlich organisierte Inquisition sollte mit der Demonstration der staatlich umgesetzten kirchlichen Macht die Bevölkerungsmasse in der Einheit des Glaubens erhalten" (Christoph Elsas: Religionsgeschichte Europas, Darmstadt 2002, S. 202; Der Autor, geb. 1945, ist seit 1991 Professor für Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg).

Ein Zitat aus der vor einigen Jahren stattgefundenen Diskussion über den Text der europäischen Verfassung:

"Prodi-Berater: EU-Verfassung enthält "Fülle christlicher Werte"

Weninger warnt vor "verwinkelten Formulierungen" in der Präambel der künftigen EU-Verfassung.

Der Text des Entwurfs einer europäischen Verfassung enthalte eine "Fülle christlicher Werte und Begriffe" sowie "substanzielles christliches Gedankengut". Dies betonte Botschafter Michael Weninger, Berater von EU Kommissionspräsident Romano Prodi für Religionsangelegenheiten, in Preßburg bei einer dreitägigen Konferenz über "Hoffnungen und Erwartungen zum EU-Beitritt" in der Slowakei und den Nachbarländern. Weninger äußerte sich laut Kathpress skeptisch gegen die Aufnahme eines ausdrücklichen "christlichen Bezugs" in die Präambel der EU-Verfassung. "Christliche Werte wichtiger als verwinkelte Formulierungen" Der österreichische Diplomat Weninger, der selbst katholischer Theologe ist, verwies darauf, dass die christlichen Werte und Begriffe im Verfassungstext wichtiger seien als eine "verwinkelte Formulierung" in der Präambel. Zugleich warnte Weninger vor einer Streichung des so genannten Kirchenparagrafen (§ 51 des Entwurfes), wie es zuletzt die belgische Regierung gefordert hatte. Dieser Paragraf enthalte für das Verhältnis zwischen der EU und den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine Fülle beiderseitiger Vorteile.

Mehr Selbstverantwortung

Der Prodi-Berater rief die Kirchen und Religionsgemeinschaften zu mehr Selbstverantwortung auf. Es sei ihre eigene "Bringschuld", mehr religiöse Politiker und Wissenschaftler hervorzubringen.

http://religion.orf.at/projekt02/news/0310/ne031003_verfassung_fr.htm

Ich meine, beide Zitate zeigen deutlich eines: Das ungeheure Selbstbewußtsein klerikaler Kreise, der kirchliche Psychoterror sei ein letztlich vernunftgeleitetes Verhandlungsergebnis der Herrschenden, die Verabsolutierung des christlich-jüdischen Wahns als Wahrheit letztlich ein Gebot politisch-moralischer Vernunft.

Je mehr man sich mit den Aktivitäten des Klerikats befaßt, desto stärker zeigt sich: Christliche Fundamentalisten und Evangelikale sagen all das mit naiver Offenheit und Unverblümtheit, was die anderen im Stillen denken und machtpolitisch ausagieren.

Faszination einer anderen, fremden , äußeren Welt, als ich bereits im Alter zwischen 14 und 16 feststelle: Das bibeltreue Christentum ist nicht die einzige Bewegung, die sich auf eine schriftliche Überlieferung gründet, die einer grauen Vorzeit und göttlicher Inspiration zugeschrieben wird:

Es gibt

die Indischen Veden (Rigveda 1750 - 1200 v. Chr.)nach Michaels 2006, s. wikipedia.de

die Upanishaden (700 -200 v. Chr.)nach wikipedia.de

die Bagavad-Gita (500-200 v. Chr.) nach wikipedia.de

das iranische Zend-Avesta (800 - 1737 v. Chr.) nach wikipedia.de

die sumerisch-babylonischen Göttermythen (700 - 2150 v. Chr.) s. Henrietta McCall, Mesopotamische Mythen, Stuttgart 1993)

altägyptische Hymnen und Gebete (1352-1333 v. Chr. / Amarna-Zeit) s. Jan Assmann: Ägyptische Hymnen und Gebete, Zürich u. München 1975

die Theogonie des Hesiod (700 v. Chr.) Stein, Kulturfahrplan, Berlin 1946

die homerischen Hymnen (700 v. Chr.) nach wikipedia.de

die orphischen Hymnen (200 n. Chr.) http://www.gottwein.de/graeca/lex/h_lit01.php , s. auch Plassmann im Vorwort der Übersetzung Köln 1982

die ältere und die jüngere Edda (1220 n. Chr.) s. Stichwort Snorra-Edda bei Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 1984

Um das chronologische Gefüge all dieser Texte einmal zu verdeutlichen, soll die folgende Tabelle Hilfestellung leisten:

 

"Heilige Bücher der Menschheit"

Westeuropa

Mittelmeerraum

Mittelasien

Südasien

2. Jahrtausend n. Chr.

Jüngere Edda

(Island)

1220

     

1. Jahrtausend n. Chr.

Heliand

923

Gnostische Texte

(s. Die Gnosis - Quellen in 3 Bänden, München / Zürich 1995)

   

1. Jahrtausend v. Chr.

 

Orphische Hymnen 200

Homerische Hymnen 700

Theogonie des Hesiod

700

 

Bagavad-Gita

500 - 200

Upanishaden

700 - 200

2. Jahrtausend v. Chr.

 

Mythische Texte der Hethiter

1300

Altägyptische Hymnen + Gebete

1352 - 1333

(Amarna-Zeit)

Zend-Avesta

800 - 1737

Rigveda

1750 - 1200

3. Jahrtausend v. Chr.

   

Sumerisch-babylonische Göttermythen

700 - 2150

 

Japanische und chinesische Texte habe ich nicht aufgeführt, weil mir das Grundwissen darüber fehlt

Die konventionelle Chronologie sagte über zwei Drittel dieser Texte, daß sie z.T. noch erheblich älter seien, als die ältesten Teile der christlich-jüdischen Bibel !

Damit war die Brisanz der geschichtlichen Zwecklüge zum ersten Mal in dramatischer Weise in mein Leben getreten. Warum verbreiteten die christlichen Funktionäre unausgesetzt die Lüge von der erkenntnistheoretischen Erstgeburt ihrer "Heiligen Schrift" ?

Ihr soziales Erscheinungsbild innerhalb der Sekte beantwortete diese Frage hinreichend: Untereinander und in ihrem persönlichen Selbstverständnis standen sie stets in einem extremen Überlebenskampf: Je mehr "Verlorene Seelen" jeder einzelne von ihnen zu "retten" vermochte, desto größer ihr Ansehen, desto größer ihre Karrierechancen innerhalb der Sekte.

Dabei war ihr Hauptinstrument die Erzeugung von Angst vor dem ewigen Tod: Dieser drohte dem unbekehrt Gestorbenen. Jemand zur Bekehrung zu überreden, bedeutete, ihn mit der Suggestion des ewigen Lebens psychisch zu infiltrieren.

Was aber war das Haupthindernis in einer solch suggestiven Machtübernahme von Menschen ?

Der Zweifel an der Absolutheit der biblischen Botschaft, ihrer göttlichen Authentizität und kulturgeschichtlichen Einzigartigkeit.

So machte ich das erste Mal in meinem Leben Bekanntschaft mit der sozialen Macht der Lüge: Wahrheit zu vertuschen, bedeutete persönlichen Machterhalt. Wenn sich eine Gruppe von Menschen, in diesem Fall Missionare gegenseitig in der Wahrheitsvertuschung bestärkten, hatten sie als Kaste ein sozialökonomisches Interesse an der Lüge. Für diese Leute gründete die Macht der Lüge weder in der Lust am Fabulieren, noch in dem bloßen Gefühl der Überlegenheit gegenüber Jenen, die ihnen auf den Leim gegangen waren.

Vielmehr ging es um ihr materielles Überleben !

Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt eines nicht erkannt: Die Autoren all dieser anderen aufgeführten Texte hatten durchaus ähnliche Antriebe.

Nebenbemerkung: Wer sich schon einmal mit der Arbeit des politischen Lobbyismus, den sogenannten Pharmareferenten oder Unternehmungsberatungsfirmen beschäftigt hat, weiß: Propagandalügen, die das Attribut "weltanschaulicher Wahrheit" tragen, sind in diesem Sinne nur ein Sonderfall der allgemeineren Zielstellung: Wirtschaftlicher Selbsterhalt einer Kaste.

Zunächst einmal war mir aber folgendes aufgefallen: Das Gros der Texte galt nicht nur als älter im Verhältnis zum Alten und Neuen Testament, sie unterscheiden sich auch in einer signifikanten Hinsicht von der Bibel: Sie schildern ein völlig anderes Gottesbild:

In ihnen ist die Rede von vielen verschiedenen Göttern, männlichen und weiblichen Geschlechts. Und diese Götter stehen bei weitem nicht so fremd, distanziert und überirdisch zu den Menschen, wie der Gott der Bibel. Sie werden als emotional und lebensnah geschildert.

Ich war entzückt !

Der erpresserische, todverheißende Vatergott der Bibel war also ein historisches Unikat. Um die ihnen ausgelieferten Menschen gänzlich seinem Machtgebot zu unterwerfen, hatten die Kleriker all diese anderen Texte unterschlagen !

Auf welche Weise die Umformung der vorchristlichen Kulturen in solche von der Kirche beherrschte wirklich beschrieben wird, versuchte ich 1989 /90 in dem Werk "Die Geißel des Kreuzes" nachzuvollziehen.

Es ist seit einigen Jahren auf der internet-Seite www.derhain.de veröffentlicht, erschien aber nie als Buch. Die Methode bestand in der Sammlung aller Quellen, in denen sich die Kirche rühmt, sie habe heidnische Kulte mit Gewalt zerstört. Das Ausmaß dieses Materials ist bemerkenswert. Wie diese Berichte aber wirklich zu interpretieren sind, wird mir erst heute langsam klar.

Jetzt zeigte sich mir eine "Kampflinie", die eindeutig umschreibbar war: Hier ein Monotheismus, der als Ausfluß eines orientalischen Despotismus zu verstehen war, dort eine fröhliche Vielgötterei, die ich mit anderen als indoeuropäische Idee deklarieren konnte !

Damit war ich schließlich vom Christen zum Heiden mutiert. Ich hatte mich von einer Religion der Angst zu einer Religion der Lebensfreude bekehrt (? !).

In meiner postjugendlichen Zutraulichkeit (zwischen 20 und 30) war ich den ewigen Axiomen klerikaler Gedankenschieber zum Opfer gefallen.

Worin bestanden diese Axiome ?

  1. Auf die richtige Religion kommt es an, finde die richtige und Du wirst glücklich. Alle alten Texte verraten dir etwas über alte Religion.
  2. Die Basis für Erkenntnis des Wahren bildet ein literarischer Text, der den Rang und den Charakter eines heiligen Buches hat. Ich glaubte mich von der Religion des Buches gelöst zu haben, und war einer neuen in die Hände gefallen.
  3. Wenn es gelungen ist, die wahre Religion zu finden, käme es andererseits darauf an, die als falsch identifizierte rastlos zu bekämpfen. Die aus meiner Sicht neue, wahre, heidnische Religion und das falsche jüdisch-christliche Denken waren nicht austauschbar, waren unverwechselbar.

Das all diese Grundannahmen auf schwerwiegenden Täuschungen beruhten, wurde mir erst später klar. Vorerst war ich damit beschäftigt, die polytheistische Spiritualität zu erkunden. In den komplexen und verschlungenen Berichten der Mythologie konnte man sich verlieren. Die vielen Wechselbeziehungen zwischen den mythologischen Texten faszinierten mich, ein geheimes Netzwerk von Bedeutungen zwischen den Göttern der Sumerer, Hethiter, Germanen, Inder und Griechen zeichnete sich schemenhaft ab.

In dem Werk "Göttinnen und Götter in den Mysterien des Heidentums", das 1994 in einem thelemitischen Verlag erschien, versuchte ich, diese Zusammenhänge zu beschreiben.

Dennoch blieb das Ganze seltsam ungreifbar, weil die Differenzen mindestens ebenso unbestreitbar waren, wie die Zusammenhänge.

Ich tauchte in die neuheidnische Bewegung ein, die ja nicht nur Mythen erforscht, sondern auch religiösen Glauben an die Gottheiten der alten Kulturen einfordert.

Die ungeheure Vielfalt dieser Bewegung habe ich zusammen mit anderen versucht, in einer Zeitschrift zu klären und zu interpretieren, die in gedruckter Form von 1987 bis 2000 erschien: Der Hain, Zeitschrift für Heidentum, Naturreligion und thelemitische Philosophie.

Die Vielfalt der Bewegung besteht in ihrer zerklüfteten Farbigkeit bis heute: Ein Ansatz zu einer klärenden Selbstvergewisserung war kaum möglich, zu individualistisch und narzistisch ihre Exponenten.

Struktur der heidnischen Bewegung

Nationalistisch / Rassistisch

Traditionalistisch

Libertät / Emanzipativ

Artgemeinschaft

 

 

 

 

 

 

Deutschgläubige Gemeinschaft

 

 

 

 

 

Armanenorden

Asatru

Eldaring

Odinic rite

Germanische Glaubens-Gemeinschaft

Keltoi

Yggdrasil-Kreis

Wicca-Kult

Thelema

Rituelle Magie

Unitarier

Öko-Spiritualität

reclaiming-Gruppe (Starhawk)

Feministische Spiritualität

Freifliegende Hexen

 

Hexenschule Berlin

 

Westlicher Schamanismus

Esoterik - Irrationalismus

Wie ist diese Tabelle zu benutzen ?

Die drei vertikalen Reihen bewerten die selbstreferentielle Einschätzung der Gruppen und Strömungen, d.h., ob sie sich selbst als Rassenkult, als Tradition oder als humanistisch-emanzipativ sehen. Die Positionierung der einzelnen Gruppen an diesen Drei Säulen deutet zugleich an, ob sie in einem eher fließenden Übergang zwischen diesen beiden Bereichen gesehen werden könnten.

Die "horizontale" Position innerhalb der Tabelle deutet folgendes an: Gründet das Wesen der Gruppe eher in dem allgemeinen esoterisch-irrationalen Substrat des Religiösen - oder ist ihr Selbstvertständnis von einer rationalen quasi intellektuellen Begründung her zu verstehen ?

Was nicht berücksichtigt werden konnte, sind Hinduismus und Shintoismus. In beiden Religionen werden Göttinnen und Götter verehrt, beide Traditionen haben polytheistische und animistische Züge.

Eine der Komplexität dieser Gruppen entsprechende Vielgestaltigkeit neuheidnischer Gottesvorstellungen habe ich im Jahre 2005 versucht zu beschreiben in dem Text

Auf der Suche nach dem Göttlichen

Vorstellungsbilder

neuheidnischer

Gottheitsbegriffe und

ihre wechselseitige Durchdringung

Dieser Text war geleitet von dem Versuch, statt Widersprüchen und Unvereinbarkeiten das Beziehungsgeflecht auch unterschiedlichster Gottesbilder aufzuzeigen.

Und dennoch war ich in der neuheidnischen Bewegung Phänomenen begegnet, die den Zusammenhang mit der ungeliebten jugendlichen Religionsszene herstellten, die ich aber, wiewohl ich ihrer von Anbeginn ansichtig wurde, beharrlich übersah:

  • Der Existenz quasi "heiliger Bücher" wie z.B. des Buches der Schatten im Wiccakult, des Liber al vel Legis in den thelemitischen Gruppen oder gar der Edda in den germanisch-religiösen Gruppen.

Teilweise war das Brimborium, das um diese teils geheimen Werke getrieben wurde noch irrationaler, als das Bibelverständnis der schon halbwegs aufgeklärten christlichen Theologen.

  • Der guruistische Mißbrauch des persönlichen Respekts: Männer und Frauen deklarieren sich rituell als Verkörperungen von Gottheiten. Mit den dadurch erzeugten Abhängkeits- und Autoritätsstrukturen sind die Resultate im Kleinen teilweise fast noch schlimmer, als das Treiben der Päpste in ihrer Funktion als Stellvertreter Gottes auf Erden.

Ganz verheerend wird die Praxis der Menschenvergottung, wenn sie symbolisch unbewußt in rechten Gruppen betrieben wird, wie z.B. im rechtsextremen Armanenorden.

  • Die Abgrenzung von anderen Gruppen mt dem Ziel der Machterhaltung der eigenen Gruppe und deren Kaste trägt stellenweise Mentalitätskennzeichen, die wir aus Mitteleuropa am Vorabend des dreißigjährigen Krieges oder aus der politisch-religiösen Welt der heutigen USA kennen. Insbesondere der Rabenclan oder die pagan federation sind kennzeichnede Beispiele solchen Ausschließlichkeitswahns.

  • Die Krönung waren dann Phantasien, die blutige Massaker zum Gegenstand hatten: 1992 hatte ich mich vom Armanenorden gelöst, der hintergründige mentale Unterstützung der rassistischen Pogrome in Rostock beigesteuert hatte. Die feministische Spiritualität beglückt uns, wie die Insiderin Martina Schäfer ausführlich beschreibt, mit "Folter an Männern als matrizentrischem Ritual" (Martina Schäfer: Die Wolfsfrau, München 2001).

  • Auf den dramatischen Mißbrauch der germanischen Mythologie in der wagnerianischen Deutschtümelei bis hin zum Nationalsozialismus möchte ich nur am Rande hinweisen. Rüdiger Sünner hat zuletzt in seinem Buch und Film "Schwarze Sonne" (Freiburg 1999) ausführlich darüber berichtet.

Der Glaube, daß die Religionen der alten vorchristlichen Stammeskulturen menschlicher, naturfreundlicher und insgesamt harmonischer waren, spiegelte sich in dem Treiben ihrer neuzeitlichen Epigonen so gut wie gar nicht wieder !

War damit die Sache schon erledigt ?

Ein Ausgangspunkt meiner Suche war neben der religionsgeschichtlichen Wahrheit die Suche nach einer lebensfreundlichen Weltsicht gewesen. Die christlich-fundamentalistischen Gruppen vermitteln ihren Anhängern vor allem eines: Der Mensch ist als Träger der Erbsünde vor allem von Natur aus schlecht.

Ich sehe es so, daß diese z.T. unbewußte Überzeugung der Hauptantrieb ist, der die Selbst- und Naturzerstörung des westlichen Menschen möglich macht - seit Beginn der frühen Neuzeit in immer schlimmerem Maße.

Gibt es also eine natürliche Religiosität, die uns statt der Selbst- oder Weltverdächtigung im Einklang leben läßt - und worin dokumentiert sich diese Religiosität historisch ?

Anders gefragt, existiert eine Bedürfnislage, die uns Anlaß gäbe, nach einer solchen Religion zu fragen oder zu suchen ?

Für ein solches Streben sehe ich nach wie vor gute Gründe:

-unser Unbehagen (frei nach S. Freud) an der modernen städtischen Zivilisation, die immer mehr Menschen psychopathologischen Erkrankungenn unterwirft.

-Der weitgehenden Zerstörung unserer Atmossphäre durch die Verbrennung fossiler Treibstoffe.

-Der völligen Erosion aller Sozialstrukturen und ihre Ersetzung durch eine kapitalistischen Verwertungsinteressen dienende Ich-Verkultung.

-der massenhaften Zerstörung natürlicher Gegebenheiten in Ernährung, Fortbewegung, Wahrnehmung und Kommunikation (mithilfe der Kunst, jegliche natürliche Vorlage aus diesen Bereichen durch ein künstliches Surrogat zu ersetzen).

-der milliardenfachen alltäglichen Vernichtung anderer Lebensformen, die der Mensch in seinem Verwertungsinteresse als unterlegen und minderwertig betrachtet, oder unbewußt/wahrnehmungslos vollzieht.

Selbstverständlich werde ich hier und heute keinen Definitionsversuch für eine neue, akzeptable Religiosität vorlegen. Zur Verhütung des Irrglaubens aber, "die Götter" vergangener Zeitalter würden uns dabei helfen, erlaube ich mir, an einen alten Griechen zu erinnern:

Euhemeros (340 - 260 v. Chr.), Zitat von Plutarch, 100 n. Chr.

"..das heißt

aber, fürchte ich, an dem Unbeweglichen rütteln, und

feindlich entgegentreten nicht nur der langen Zeit,....,

sondern auch

der Überzeugung vieler Menschenalter und Geschlechter,

die von der Verehrung für diese Götter begeistert sind;

dies wäre nichts geringeres, als wollten wir die großen

Namen vom Himmel auf die Erde herabziehen,

und die fast llen Menschen von Kindesbeinen an

eingepflanzte gläubige Andacht ausreißen

und zerstören. Wir würden dadurch dem

ungläubigen Pöbel, der das Göttliche

vermenschlicht, Thür und Thor öffnen, ja wir würden

den Flunkereien  des Messeniers Euhemeros eine offenkundige

Beistimmung geben.

Dieser verbreitete durch die von ihm verfasste unglaubliche und

unbegründete Götterlehre jede Art von Gottlosigkeit über

die Erde, indem er alle bisher für Götter gehaltenen Wesen

gleichmäßig verzeichnet als die Namen von Heerführern,

Seefeldherrn und Königen, die nämlich vor Alters her lebten

und in Panchon mit goldenen Buchstaben aufgezeichnet

stehen; aber weder einem Barbaren noch auch einem Hellenen

sind diese Schriften jemals aufgestoßen, sondern fürwahr

dem Euhemeros allein, als er zu den nirgendwo auf Erden

gewesenen noch vorhandenen Panchoern und Triphylern schiffte."

Dieses Zitat stammt aus:

Plutarch über Isis und Osiris, nach neuverglichenen

Handschriften mit Übersetzung und

Erläuterungen herausgegeben von Gustav Parthey.

Berlin, Nicolaische Buchhandlung, 1850.

Kap. 23.

Erinnert sei auch an Ciceros "De natura deorum", der in seiner vor ca. 2000 Jahren veröffentlichten Schrift drei Römer hemmungslos und unehrfürchtig über Sinn und Unsinn der unterschiedlichsten Gottesvorstellungen diskutieren läßt.

Wenn ich Mutmaßungen darüber anstellte, was ich bei meiner Erkenntnisarbeit auf der Suche nach dem sinnvoll Religiösen falsch gemacht hatte, stellte sich für den historisch Interessierten natürlich folgende Frage: Welche Quellen hatte ich vernachlässigt ?

-Mündliche überlieferungen (Sagensammlungen). Die meisten historisch Interessierten machen sich keine Vorstellung darüber, wie nachteilhaft die Verschriftlichung von Informationen überhaupt ist:

    • Schriftliche Fixierung hemmt die Vielgestaltigkeit des menschlichen Vorstellungsvermögens, welches motivische Ausgangswerte variantenreich verändert.
    • Sie behindert die Anpassung an neue Situationen wie z.B. Wandlung der Ökonomie und der Sprache (Die meisten heiligen Schriften sind in "toten" oder künstlichen Sprachen verfaßt).
    • Sie ist aufwendig und verwundbar (Geschichte der verbrannten Bibliotheken)
    • Sie fördert die Kastenbildung, da Produktion, interpretation und Verbreitung von Texten als Antrieb zu arbeitsteiliger Spezialisierung dient.
    • Sie zwingt, durch die Macht der Abstraktion zur Bildung nur der Kaste verständlicher Begriffe, was eine fortschreitende Entfernung von der Wirklichkeit zur Folge hat. Der Abstraktionsdrang resultiert aus der Erfordernis, Erlebnisse und Wahrnehmungen zu beschreiben, die sprachlich keinen Niederschlag finden, weil sie nicht unmittelbar zivilisatorisch nutzbringend sind.

-Texte, die direkte Niederschläge mündlicher Überlieferungen darstellen (Rockenphilosophie und Physiologus)

-philosophische Texte (Die zur gleichen Zeit literarisch tradiert werden wie die mythologischen Texte, die aber das Mythisch-Religiöse in Frage stellen !)

-Ikonographisch-künstlerische Informationen über Landschaft, Gesellschaft, Arbeit und Ernährung in Buchmalerei, Gemälden und Felsoberflächen)

-Erinnerungsspuren aus dem kollektiven Gedächtnis (Zu berücksichtigen dabei die Arbeiten von Sheldrake zu metaphysischen innerartlichen Lern- und Kommunikationsprozessen).

-Gestaltete Landschaftsformen, wie künstliche Grabhügel, Erdpyramiden und Kurgane, die konventionell archäologisch unumstritten sind, aber nicht in ihrer zivilisationsgeschichtlichen Relevanz diskutiert werden.

-Gestaltete Landschaftsformen, die historisches Geschehen dokumentieren, aber der Naturgeschichte zugerechnet werden.

-Wahrnehmung der Energien von vergangenem Geschehen an bestimmten Orten.

-Das Traumerleben einschl. des Tagtraums, dessen Sinnhaftigkeit die Psychoanalyse mühsam versucht hatte, zu rekonstruieren.

Spätestens an diesem Punkt war die Frage zu stellen, ob Wissenschaft in ihren bekannten Gestaltungsformen überhaupt Beiträge zu Wahrheit und Erkenntnis zu bieten vermag. Wenn wir nur kurz den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang der europäischen Neuzeit durchdenken, ist das Ergebnis verheerend:

-Der Ursprung unserer Universitäten liegt strukturell und z.T. sogar in der direkten institutionellen Deszendenz in den Klosterschulen des späten Mittelalters.

-Die an den Universitäten und damit in der gesamten wissenschaftlichen Forschung geltende Autorität und die subhumane Position des "Novizen" leitet sich damit strukturell indirekt ab von der Hierarchiemystik der Katholischen Kirche.

-Die heute noch in Biologie, Medizin und Jurisprudenz geltende Fachsprache wurzelt in der Fachsprache der Theologen.

-Aber auch die Denkgewohnheiten des Wissenschaftsbetriebes sind insofern, da Sprache und Denken eng verflochten sind, nicht sonderlich originell. Sie wurzeln in der mittelalterlichen Scholastik. Und das trotz einer über hundertjährigen inneren Kritik sowie ständiger Neubildung wissenschaftlicher Disziplinen. Das Hauptproblem dieser Denkgewohnheiten besteht in der Zuteilung des Erkenntnisvermögens an Forschungszweige, die mit begrifflichen Kategorien einhergehen.

Eine Sache, die hier keinen Namen hat, ist kein Gegenstand der Erkenntnistätigkeit. Eine Sache, die offenbar einer falschen Kategorie zugeteilt wird, ist damit dem interessierten Erkenntnisvermögen entzogen.

Die Kategorienbildung der herrschenden Wissenschaftstheorie legt Grenzen fest, obwohl das Wesen der erkennbaren Welt in der allseitigen Verbundenheit ihrer Energien, Kräfte und Objekte besteht.

Was ich hier zur historischen Stellung der Wissenschaft nur allgemein theoretisch, wenngleich aber unbeweifelbar und letztlich unanfechtbar gesagt habe, durfte ich selbst noch einmal in einer besonderen wissenschaftlichen Disziplin kennenlernen.

Einige Freunde in der heidnischen Szene hatten nach einem akademischen Betätigungsfeld gesucht. Sie schienen es gefunden zu haben in der Religionswissenschaft.

Waren hier vielleicht Zusammenhänge erkannt worden, die dem Glaubenden, dem einseitig Traditionsverhafteten, dem Mystiker aufgrund seiner subjektiven Parteilichkeit zwangsläufig verborgen bleiben mußten ?

Interessante Informationen, die zu neuen Überlegungen Anlaß gaben, fand ich hier allemal in Fülle. Aber wie sehr wuchs meine Enttäuschung, als ich eines feststellen mußte: Zahlreiche "Klassiker" der Religionswissenschaft waren selbst Theologen, beamtete Kirchenfunktionäre oder Missionare gewesen. Von Friedrich Schleiermacher über Nathan Söderblom, Wilhelm Schmidt, Rudolf Otto, Gerardus van der Leeuw bis zu Friedrich Heiler war die Energie dieser Wissenschaft darauf gerichtet, der christlich-jüdischen Religiosität zu einer modernen Denkgewohnheiten entsprechenden Plausibilität zu verhelfen.

Die Krönung darin war für mich der Leiter des religionswissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin, Hartmut Zinser. Zinser, ein entschiedener Altachtundsechziger war überzeugter Unterstützer der katholischen Kirche. Seine Hauptargumente für diesen Lobbyismus schienen sozialpolitischer Natur.

Aber inzwischen haben die interessierten Kräfte in Berlin noch mehr erreicht: es wurde bereits ein Lehrstuhl für "christliche Archäologie" an der Humboldt-Universität etabliert.

Ein typisches Beispiel für theologisch-religionswissenschaftliche Spiegelfechtereien ist die Monotheismus-Polytheismus-Debatte.

Zu bedenken ist, daß die explizite Begriffsbildung in Beziehung steht zum Begriff des "Monotheismus", der zuerst im 17. Jahrhundert von dem englischen Platonisten Henry More (1614 - 1687) genannt wird.

In dieser Situation machte ich Bekanntschaft mit einer erweiterten Wahrnehmung archäologischer Funde und der Chronologiekritik: Die Dekonstruktion der herkömmlichen Chronologie stand bevor.

Mit der flächendeckenden Zwangschristianisierung hatten die Kirchen Europa mit einem Netz christlicher Kultstätten überzogen. So die herkömmliche Theorie. Nun trat das Faktum in meine Wahrnehmung, daß ein Großteil dieser architektonischen Monumente alles andere waren, als christliche "Gotteshäuser". Wolfgang Fischer hatte mich auf das Phänomen der schiefen Türme aufmerksam gemacht.

Das war für mich der Ausgangspunkt einer Detailforschung an jenen Bauten, die mich auch noch einige Jahrzehnte in der Zukunft beschäftigen wird.

Schon jetzt kann ich soviel sagen: Diese Forschungen geben Auskunft über spezifische Gottheitsverständnisse einer mitteleuropäischen Geisteskultur, was anhand der Rezeption der oben genannten mythologischen Texte unmöglich war.

Aus der Geschichts- und Chronologiekritik, wie ich sie in den Werken Uwe Toppers kenenlernte, ergab sich für mich eine Dramatisierung der Bewertung der Bibel:

Wenn, wie Kammeier und Topper behaupten, Bibel und Christentum rund ein bis anderthalb Jahrtausende später aus der Taufe gehoben wurden, als die offizielle Chronologie es darstellt, ergibt sich daraus: Theologen und Kleriker haben gute Gründe, den Blick auf nichtchristliche Quellen soweit wie möglich zu vernebeln. Denn diese Quellen würden nicht nur zeitlich näher an die Gegenwart "heranrutschen".

Und ferner ist natürlich eine bewußte Verfälschung des eigenen Werdegangs und der eigenen Entstehungsgeschichte ein guter Grund, alles Vorherige als primitive und amorphe Ungestalt abzuwerten, um davon abzulenken.

Die Beziehung dieser Entstehensprozesse zu Kreuzzügen, Bauernkriegen und Kolonialismus würde vielleicht auch die Kirchen als Urheber des Christentums in ein sozialgeschichtliches Licht setzen, das so gar nicht ihrem hehren Selbstbild als Behüterin der Humanität entspräche.

Ferner zwingt uns die Theorie Toppers dazu, eine viel engere Verknüpfung von sogenanntem europäischem Heidentum und Christentum anzunehmen. Es gibt nämlich beste Gründe dafür, das Christentum als eine psychopathologische Schwundform heidnischer Ideen zu betrachten. Auch dieses Phänomen wird mich in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen. Hoffentlich in angeregter Diskussion in diesem Kreis.