Matthias Wenger

 

 

Auf der Suche nach dem Göttlichen

Vorstellungsbilder

neuheidnischer

Gottheitsbegriffe und

ihre wechselseitige Durchdringung

Eine kritischer philosophischer Essay

 

 

 

 

Berlin * Herbst 2005

Dieses Buch wurde verfasst zu Imbolc/Disarblot 2003 . Es ist im Selbstverlag des Autors erschienen. Sie können es bestellen über e-mail paganview@onlinehome.de oder über meine Anschrift: Ostender Str.2, 13353 Berlin. Ich übersende Ihnen eine Rechnung, Sie erhalten das Buch nach Eingang des Betrages

 

Inhalt

Die Stimme der Göttin


Göttliches in allem - die Botschaft des Pantheismus


Göttin und Gott - das göttliche Paar des Hexenkults


Der duotheistische Synkretismus des

Wiccakults: "Alle Göttinnen

sind eine Göttin, alle Götter sind ein Gott"


Pragmatischer Polytheismus als

Neuheidnisches Toleranz-Projekt


Polytheismus oder

Monotheismus - eine Frage der

Perspektive


Animistischer Polytheismus


Urbaner Schamanismus


Variationen des traditionalistischen Polytheismus I.

(Funktionaler naturalistischer Polytheismus)


Variationen des traditionalistischen Polytheismus II.

(Funktionaler gesellschaftlicher

Polytheismus / Ahnenkult)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Stimme der Göttin

Der Weg durch die Stadt, der mich vom Norden nach Schöneberg bringt, führt hügelan. Ich fahre mit dem Bus einen sanften Berg hinauf, bin vorher unten und komme mir klein vor.

Die Welt kann als etwas gesehen werden, in deren Innerem ich mich bewege - überall sind Hindernisse, wenn ich mich unwohl in dieser Welt fühle, überall ist Anschmiegsames, wenn ich mich in ihr zuhause fühle.

In jeder Richtung unendlich weit und groß, gibt mir die Erde doch eine gleichbleibende Sicherheit - wenn ich mich nicht auf unnatürliche Weise erhebe, hält sie mich fest, gibt mir ein Leben lang Halt.

Die ganze Welt als ein Wesen zu betrachten, das mich umschließt, mich an sich gebunden hält, die Welt als Mutter - ein Glaube scheint sich darin zu erweisen, der uralt sein kann.

Wer das Leben aufmerksam wahrnimmt, wird feststellen, daß es viele gleichbleibende, verläßliche Phänomene enthält. Saat und Ernte, Tag und Nacht, innen und außen, Kraft und Schwäche - alles ist wie die Botschaft: "Sei nicht besorgt, ich bin schon da, so, wie Du mich erwarten konntest".

Vielleicht war und ist dies die Botschaft der Göttin, wie sie von zahlreichen modernen Heiden und anderen Menschen seit der Ära der frühen Ackerbauern vernommen wurde. Vielleicht haben schon Jäger und Sammler die Züge der Büffel und den Aufgang der Gestirne als Verheißung der Wiederkehr des Vertrauten empfunden.

Erst recht dient dieser Glaube dazu, die Welt zur Heimat zu machen, wenn die Propheten der Gegenwart eine Zukunft unberechenbarer und permanenter Veränderungen predigen.

Die Göttin bringt uns ein Empfinden der Sicherheit, der Gewißheit und des Wohlgefühls. Ihre Anbeter sind wohlbehalten in einem System, das für sie gemacht wurde.

Und weil die Göttin alles ist, gibt es auch keinen zweiten Willen oder andersartige unbekannte Absichten, die dem Menschen wirklich schaden könnten. In dem großen Organismus, der Welt als Ganzem, gibt es nur ein Ziel:

Die allumfassende Güte der göttlichen Mutter. Der großen Göttin können die Menschen deshalb ebenso vertrauen, wie ein Kind seiner Mutter vertraut.

Der Einwand, daß der Mensch hier in einem Zustand verharrt, der spätestens mit seiner Pubertät abgeschlossen werden sollte, übersieht eines: Trotz der Überschichtung des kindlichen Ichs durch die Forderungen des Alltagslebens lebt jenes Kindliche immer weiter. Es ist tief im Inneren des Menschen stets lebendig, es birgt jenes ursprüngliche Vertrauen in die Umsorgtheit durch die Allmutter.

Auch der Ruf der Freiheit, der dem Menschen Loslösung von allen Bindungen und Autoritäten verheißt, verkennt Wesentliches: Der Glaube an ein letztes und großes Behütetwerden erzeugt die Kraft zum Überleben. Der Glaube, daß sich letztendlich alles zum Guten wendet, bringt immer neue Antriebskraft für das Morgen hervor.

Die Große Göttin kann eine Göttin der Erde sein. Sie mag sich aber auch im gestirnten Himmel verkörpern, der des Nachts die Erde sichtbar umschließt.

Tod und Sterben bedeutet Frieden und endliches zur Ruhe Kommen. Denn die Menschen kehren dann zurück in ihr Inneres, in den Leib der Erde. Deshalb ist der Tod kein Schrecknis - verlöschen doch in ihm Angst und Unruhe.

Allerdings bedurfte die Wahrnehmung der Bewegtheit des Lebendigen, des Wechsels von Antrieb und Ermattung einer adäquaten Widerspiegelung in der Gestalt selbst, ohne daß ihre innere Einheit gefährdet würde. Sie wurde bewerkstelligt durch die symbolische Repräsentanz der menschlichen Lebensphasen, wie sie sich in der Jungfrau, der Mutter und der weisen Alten widerspiegeln.

Und in dieser Dreigestalt der Großen Göttin, ihrer Dreifaltigkeit findet auch zugleich ein Rückbezug der gedanklichen Abstraktion zum Naturalistischen statt: die drei Lebensphasen spiegeln die erfahrene körperliche Lebenswirklichkeit des einzelnen Menschen, der einzelnen Frau wider.

Vielleicht ist die Trinität von Jesuskind, sich opferndem Erlöser und greisem Gottvater ähnlich zu verstehen - und aus ähnlichen Symbolwelten entsprungen.

Was einem daran auffällt, ist die Abwesenheit des geschlechtlichen Gegenparts in den jeweiligen Wachstumsphasen sowohl in der patriarchalischen als auch in der feministisch-matriarchalischen Variante.

Die Idee einer Gottheit, die so nur EINES ist, läßt sich sinnvollerweise allein mit einer weiblichen Gottheit in Verbindung bringen. Erst dann, wenn man sie auf eine Gottesvorstellung männlichen Geschlechts überträgt, wird sie absurd - ist doch der Mann immer nur Teil eines Ganzen, weit ausholend, um durch Bewegung Veränderungen zu erzwingen. Die monotheistischen Religionen sind verständliche Versuche von Männern, der Religion der Göttin das Wasser abzugraben.

Aber wie kann z.B. ein Mensch Erlösung in der Gottheit erstreben, wenn nicht vorstellbar ist, daß er zu erneuter Geburt in ihren Leib zurückkehrt ? Aus einem weiblichen Körper kann das Leben immer wieder hervortreten - aus einem männlichen Körper stets nur indirekt (wenn es durch Zeugung geschehen sollte).

Die prinzipielle Bildlosigkeit der monotheistischen Religionen mag vielleicht ein altes Erbe sein: Wenn die ganze Welt ein großes Wesen ist, das uns in sich trägt, wie sollte ein solches Wesen durch das Gleichnis eines begrenzten, unscheinbaren körperlichen Wesens darstellbar sein ?

Es sollte noch der Frage nachgegangen werden, worin das spezifische Interesse eines religiösen Menschen bestände, eine Gottheit in weiblicher Gestalt zu verehren. Diese Frage in Bezug auf das Neuheidentum scheint mir unlösbar verknüpft zu sein mit der veränderten Rolle der Frau in den gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen seit der Zeit der Aufklärung.

Nach dem Ende einer Ära der grundsätzlichen Abwertung des Weiblichen durch die Kirche begann der Kampf der Frauen um ihre Identität. Die Suche nach dem Wesen des Weiblichen, nach weiblicher Selbstbestimmung jenseits männlicher Definitionen, brachte im Bild der Großen Göttin eine mächtige Verbündete hervor.

Der weltweite Aufschwung patriarchaler Fundamentalismen jeder Art von Texas über Rom bis nach Jerusalem und Kabul zeigt nur Eines: Die zeitgeschichtliche Bedeutung und Berechtigung der Gestalt der Großen Göttin als gesellschaftlicher Affirmation.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Göttliches in allem - die Botschaft des Pantheismus

Die Gewißheit einer Göttlichkeit der Welt im Ganzen, der Göttlichkeit aller ihrer Phänomene, die uns begegnen, stößt an einem Punkt an ihre Grenze: Wenn man glaubt, daß diese Göttlichkeit durch eine einzelne Person weiblichen Geschlechts darstellbar ist. Denn das weibliche Geschlecht ist eben nur eins von mehreren, und eine Person kann immer nur Teil eines komplexeren Ganzen (z.B. einer Lebensumwelt) sein.

Bei den griechischen und altindischen Naturphilosophen wie bei neuzeitlichen Naturwissenschaftlern ist deshalb ein Pantheismus ohne Glaube an eine persönliche Gottheit verbreitet.

Die verläßliche Einheit der Welt beruht letztendlich darauf, daß sie in ihrem letzten Grund auf einer Substanz beruht, die uns in ihrem Wechselspiel die Illusion der Verschiedenheit vorgaukelt.

In der theoretischen Physik kann man dieses Unbegreifliche sogar begreiflich machen: Durch den Satz von der Erhaltung der Energie infolge ihrer bloßen Transformation. Dies würde verständlich machen, warum in der Verschiedenheit der Phänomene immer nur eine göttliche Substanz durchscheint.

Aber noch ein wesentlicher Gesichtspunkt richtet sich gegen die Personalität einer Allgottheit: Wenn der Mensch einer göttlichen Person gegenüber steht, befindet er sich in einer Spaltung eines Diesseits (menschlicher Existenz) und eines Jenseitigen (der göttlichen Person). Damit stellen wir die Einheit der Natur und die Geborgenheit in ihr wieder in Frage - ein Kernproblem der patriarchalischen Monotheismen.

Die Problematik des Pantheismus liegt allerdings in seinem Religiositätsdefizit: Ist alles göttlich, gibt es keine Exklusivität des Heiligen, des Weihevollen.

Die Göttlichkeit des ganzen Lebens (und damit auch alles dessen, was es in Frage stellt), kann sich nur innerhalb eines mystischen Bewußtseins ereignen, aber nicht in einem dialektischen, dreidimensionalen Bezugssystem. Sie ist damit auch nicht kommunizierbar und produziert keine sozialen Strukturen - eine wesentliche Vorraussetzung religiösen Lebens.

Dieses Paradox läßt sich aber umgehen, wenn man sich bemüht, die Göttlichkeit des Lebendigen zunächst einmal nicht in seiner allumfassenden Ganzheit wahrzunehmen, sondern in seinen Teilaspekten. Der Weg zu diesem Ziel liegt im Interesse an der Natur, in der sinnlichen Offenheit für ihre Phänomene und Darbietungen - um uns und in uns.

Das bedeutet zunächst einmal, das wir ohne Präferenzen all dem in der Natur Interesse entgegenbringen, was sich uns zeigt.

Das ist ein anderer Weg, als in der Naturwissenschaft, die ihr Interesse nur jeweils auf kleine spezifische Ausschnitte des Naturganzen richtet, und es darauf fixiert. Ihre Kategorialsysteme zeugen davon, daß die Herrschaft über die Natur ein stärkerer Antrieb für sie ist, als der Respekt vor ihr.

Der Naturwissenschaftler, eigentlich im Ansatz durch Naturinteresse motiviert, muß sich bemühen, nicht in sezierende Selektion der Naturprozesse zu verfallen. Wenn er diese Klippe umschifft, ist der Pantheismus sein adäquates Gottesbild.

Pantheismus und Göttinkult haben eine wesentliche Gemeinsamkeit: Sie bejahen grundsätzlich die Welt, in der der Mensch lebt, sie gehen beide von der Idee aus, daß alles im Universum sinnvoll miteinander verbunden ist und eine gemeinsame Zielsetzung des Lebens gegeben ist.

Pantheismus und Göttinkult betrachten den einzelnen Menschen als wichtigen und bedeutsamen Teil eines sinnvoll miteinander verflochtenen Ganzen.

Nur an einem Punkt ist die Religion der "Großen Göttin" nicht plausibel:

Wenn die Welt als Ganzes und das eine Göttliche "eine große weibliche Person" darstellen, wo bleibt dann das Prinzip des Menschlichen als Geschlechts- und Gattungswesen, welches auf Differenz und Polarität beruht ?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Göttin und Gott - das göttliche Paar des Hexenkults

Das Leben eines einzelnen menschlichen Wesens ist nicht vorstellbar ohne das Mitwirken seiner Mitmenschen. Deshalb ist die partnerschaftliche Ergänzung von Göttin und Gott, aber auch einer Gruppe von Menschen eine sinnvolle und einleuchtende Vorstellung, wenn ich Göttliches im Bilde des Menschen zum Ausdruck bringen will.

Sowohl in sehr alten Mythen als auch im indischen Tantrismus treten deshalb Göttinnen und Götter in spezifischen, zum Teil unauflöslichen Beziehungen auf.

Natürlich gibt es, nach dem Prinzip der legitimen Abweichung auch hermaphroditische und transsexuelle Gestalten in den Mythen.

Aber zahlreiche Mythenkreise variieren die Vielfalt gegengeschlechtlicher Beziehungen - von der Einehe über die patriarchalische Polygamie bis hin zur sexuellen Autonomie der "Urgesellschaft".

Götter haben Gemahlinnen, Göttinnen ihre Geliebten, aber es gibt auch Beziehungen zwischen Göttinnen und Göttern, in denen beide auf gleicher Stufe stehen.

Viele mythische Systeme orientieren sich an dialektischen Bewertungen der Geschlechter, die mit naturalistischen Zuordnungen verknüpft sind: Die "passive, empfangsbereite" Mutter Erde und der "aktive, zeugungsfähige" Vater Himmel sind ein gutes Beispiel für eine derartige Verknüpfung. Welche Wertschätzungen kommen in einem solchen Gefüge zum Ausdruck ?

Auch in diesem Bild wird die Natur als ein Ensemble von Kräften betrachtet, deren Eigenschaften und Zusammenspiel einem gemeinsamen, in sich schlüssigen Zweck dienen. Die Übertragung der Vorgänge von Attraktion und Geschlechtsverkehr auf Naturprozesse offenbart eine solche unterstellte Sinngebung.

Wenn zum Beispiel das Zusammenwirken von Himmel und Erde Leben hervorbringt, bewegen wir uns immer noch innerhalb des Bildes einer organischen Ganzheit mit bestimmbaren biologischen Wirkungen, das von der Welt als einem geschlossenen, vertrauenerweckendem System ausgeht.

Sowohl der indische Shaktismus als auch der moderne Hexenkult duotheistischer Prägung (Wicca) sehen das Weltganze als eine Polarität zweier sich ergänzender Prozesse.

In Wicca beispielsweise ist die Göttin das immerdar Seiende, das sich lediglich wandelt und sein Antlitz verändert, während der gehörnte Gott gewaltsam stirbt, um aus dem Leib der Göttin neu geboren zu werden.

In dieser Art von Wechselbeziehung kommt es folglich zu einer Ergänzung zwischen dem Beständigen und Allumfassenden ( die Göttin !) und dem Wechselhaften und Singulären (der Gott). Göttin und Gott stehen auch in einem ähnlichen Verhältnis zueinander, wie das Ganze und ein Teil des Ganzen.

In verschiedenen Mythenkreisen und Religionssystemen irisiert und variiert die Stärke und Position des einzelnen Teils innerhalb eines solchen göttlichen Paars.

So beinhaltet der in der Mitte des 1. Jahrtausends n. d. Ztw. zu verortende indische Tantrismus eine Vorstellung, nach der die Kraft eines Gottes (wie z.B. Brahma, Vishnu oder Shiva) "seine Shakti" darstellt, d.h. seine ihm innewohnende Kraft. Ein derartiges Verhältnis zwischen einem Gott und "seiner Göttin" würde ich als androzentrisch bezeichnen. Oder denken wir an den umgekehrten Fall: Den Tod der Gemahlin des Gottes Baldr, die ihm nach seiner Ermordung auf das flammende Totenschiff folgt. Auch die Geburt der Athene aus dem Haupt des Zeus deutet auf ein ähnliche Motive.

Andererseits ist der kleinasiatische Kybele-Kult bekannt, der für die Aufnahme eines Mannes in das Priesterkollegium die Kastration vorraussetzte. Aus derartigen historischen Extrembeispielen hat die moderne feministische Spiritualität den Schluß gezogen, daß Menschenopfer an Männern im Matriarchat eine wichtige Rolle gespielt haben müssen - bis hin zu der Aussage von Heide Göttner-Abendroth, daß männliche Wesen in matriarchalen Mythen niemals den der Göttin ebenbürtigen Rang eines Gottes haben, sondern bestenfalls als "Heros" figurieren können.

So kommt man nicht um die bedauerliche Feststellung herum, daß in neuheidnischen Extremformen historische Projektionen auf den frühneuzeitlichen Hexenkult thematisiert werden: Im Satanismus etwa die patriarchale Variante, im Ultrafeminismus eine feminin-reduktionistische Version.

Diese unterschiedlichen Dimensionierungen der Geschlechter in Mythen sind letztlich Ausdruck gesellschaftlicher Macht- oder Ohnmachtsverhältnisse.

Der Glaube, daß die inhaltliche Differenz der Geschlechterrollen auf nicht hinterfragbaren, naturgesetzlichen Grundlagen fuße, erweist sich schnell als mentaler, sozialisationsbedingter Fetischismus (s. Luise Kahn).

Was bleibt, ist die elementare Realität des Doppelgeschlechtlichen in der Welt der Säugetiere. Das duotheistische Gottesbild ist nicht mehr naturreligiös im umfassenden, die ganze Welt umschreibenden Sinne, es hat eher eine anthropozentrische Komponente. Aber es eröffnet uns andererseits einen neuen naturalistischen Kontext, als es uns auf die Realität unserer eigenen, unmittelbar menschlichen Natur verweist.

In der Betrachtung der uns umgebenden Natur können wir Projektionen und Idealisierungen erliegen. Das gilt auch für die innere Natur. Und dennoch ist uns hier die Problematik der Wirklichkeit der Natur näher gerückt, tritt sie hier unausweichlicher in Erscheinung.

Der moderne Hexenkult hat in weiten Teilen dem Bedürfnis nach Gleichberechtigung der Geschlechter Ausdruck verliehen, einer Idee, die als typisch westliche, aufklärerische Schlußfolgerung in Widerspruch zu der christlichen Abwertung des Weiblichen getreten war. Wenn, wie in manchen Wicca-Strömungen oder im sogenannten "freifliegenden Hexenkult" eine Parität von Gott und Göttin erstrebt wird, wenn Gott und Göttin auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen - dann ist die Versöhnung der Geschlechter (oder die drängende Vision eines solchen Projekts) zum Auslöser eines völlig neuen Gottesbildes geworden. Eines polymorphen Gottesbildes, das die Synthese des scheinbar Gegensätzlichen und Widersprüchlichen erstrebt.

Würde man dieser Gottheitsidee konsequent nachgehen, so würde damit nicht nur den historisch bekannten gegenseitigen Abwertungen der Geschlechter ein Ende gesetzt (Patriarchat versus Matriarchat), auch dem ethischen Dualismus, der uns von Zarathustra bis George W. Bush bedrängt, hätten wir mit nachdrücklicher Wirksamkeit die Stirn geboten.

Es ist zu betonen, daß diese Version einer Ergänzungsgemeinschaft von Gott und Göttin eine völlig neue mythische Sequenz darstellt und sich mit historischen Reproduktionen nur noch illustrativ begründen ließe - aber nicht kausalhistorisch. Das heißt, dass die religionshistorische Aussage, die "alten Heiden" hätten schon immer an "den Gott und die Göttin" geglaubt, als Illusionsmalerei zurückgewiesen werden müßte. Folglich wäre aber das duotheistische Gottheitsbild des neuheidnischen Hexenkults in seiner gereiften Form (wie z.B. bei Starhawk) die aktuellste und zeitgemäßeste Antwort einer neuen Religion auf eine zeitgenössische Problemstellung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der duotheistische Synkretismus des

Wiccakults: "Alle Göttinnen

sind eine Göttin, alle Götter sind ein Gott"

Wenn neuheidnische Hexen auf ihre Gottheiten verweisen, benutzen sie in der Regel Namen solcher Gottheiten aus alten oder zeitgenössischen Religionen. Das Faktum der Geschlechtlichkeit des Göttlichen in polytheistischen Mythen ermöglicht uns hier eine entsprechende Auswahl in unendlicher Vielfalt. Natürlich gibt es Systeme wie das Keltentum oder den Hinduismus, die in diesem Zusammenhang eine ungleich stärkere Popularität genießen als andere.

Was hervorscheint, ist die Faszination, die emotionale Ausstrahlung einer mythologischen Gestalt wie z.B. Cernunnos oder Kali, die gemäß ihrer geschlechtlichen Identität in Beziehung gesetzt werden zur "Göttin" oder zum "Gott".

Was hier zum Ausdruck gelangt, ist ein universeller Anspruch des duotheistischen Prinzips: Alle weiblichen Gottheiten in den vielen Religionen der Menschheit seien demnach spezifische kulturelle oder regionale Ausdrucksformen der einen weiblichen Gottheit, alle männlichen Gottheiten jene des einen Gottes, des Gefährten der großen Göttin.

Der Versuch, sich mit der Vielfalt des Kulturerbes der Menschheit vertraut zu machen, schlägt sich in diesem Axiom ebenso nieder, wie der Anspruch von Wicca auf die Deutungshoheit über die Vielzahl der religiösen Traditionen.

Die koloniale Tradition Großbritanniens, wo Wicca entstand, wird zu einer solch globalen Perspektive einiges beigetragen haben.

Die Epoche der Globalisierung verleiht ihr auf ihre Weise neuen Antrieb, im Sinne ihrer ökonomischen Nutznießer, vielleicht aber auch im Sinne jener, die das "globale Dorf" im Kontext humaner Bedürfnisstrukturen organisieren wollen.

Und dennoch: Die Möglichkeit des gegenwärtigen westlichen Menschen, sich allüberall in Glaubenssystemen und Mythologien rund um den Globus zu bedienen, befreit ihn nicht von einem: ein eigenes symbolisches Verständnis von Gottheiten zu erarbeiten – oder sich auf eine kulturspezifische Variation von Gottheit zu konzentrieren.

In leicht faßlicher Weise würde ich diese Variation des Gottheitsverständnisses folgendermaßen umreißen:

"Diese Göttin hier repräsentiert die Göttin, dieser Gott hier repräsentiert den Gott".

Ein derartiger Verweis steht natürlich in einem Spannungsverhältnis zum Naturalistischen, das in der Gottheit einer bestimmten Kultur zum Ausdruck kommt. Damit meine ich, daß etwa eine Gottheit wie Cernunnos das Ergebnis einer Vielzahl naturbezogener Faktoren in der Tierwelt (Hirsch), der Botanik (Wald) und kultureller Prozesse der Symbolbildung und ihrer imaginativen und erzählerischen Vermittlung darstellt. Dieser Gott entstand als Glaubensform im geschichtlichen Prozeß, weil Menschen in einer bestimmten Sprache, mit einer bestimmten Lebensweise und Ernährung in einer bestimmten Umwelt und auf einer ganz bestimmten Zivilisationsstufe zu einer eben so gearteten Imagination kommen konnten.

All diese spezifischen Faktoren werden mit einer Verallgemeinerung, wie sie im oben aufgeführten Satz zum Ausdruck kommt, geleugnet, ja nivelliert.

Es ist die platonische Ideenlehre, welche in Jungs Archetypenlehre mitsamt seiner schopenhauerschen Wirklichkeitsverneinung ihre fröhliche Wiederauferstehung feierte. Die in einer derartigen Reduzierung zahlreicher Formen der Naturwirklichkeit auf nur wenige Wirkungskräfte der Transzendenz (genaugenommen nämlich eben nur zwei) zu einer Entwertung und Entleerung der Naturwirklichkeit führt.

Letztlich mündet also der duotheistische Synkretismus niemals in ein System naturreligiöser, weltbejahender Phänomenologie ein - es vergewaltigt die Vielgestaltigkeit der Kulturen und des Lebens auf der Grundlage eines transzendenten, überweltlichen Systems, das in der Tradition der neuplatonischen, frühchristlichen und letztlich dualistischen Wahrnehmungsspaltung wurzelt.

Die Distanz gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt der Geschlechterdifferenz kommt auch in jenen Deutungen von Wicca zum Ausdruck, die in der Zweigestaltigkeit von Gott und Göttin weniger die Gottheitsgestalten, als vielmehr das sich ergänzende Gegensätzliche wahrnehmen.

Das Wechselspiel gegenläufiger Kräfte, wie es im Prinzip der Polarität von Gott und Göttin, in der Dreigestalt der Göttin, in der Vierheit der Elemente oder der Achtheit der Jahresfeste zum Ausdruck gelangt, wird hier als formales Weltgesetz betrachtet, wofür das göttliche Paar lediglich illustrativen Charakter besitzt.

Natürlich waren diese dialektischen Symbolifikationen nicht neu, als Wicca ins Leben trat. Es ist gewissermaßen eine imaginative und mythologisierende Umsetzung hegelscher Konzepte.

Es bleibt noch der Hinweis auf zwei recht unterschiedliche Varianten des Umgangs mit diesem duotheistischen Synkretismus: Einer anekdotischen Gelegenheitsbeziehung zu bestimmten Gottheiten einerseits und einer persönlichen, intensiveren Bindung einzelner Menschen oder Gruppen an "ihre" Gottheit.

Wie ist dieser Unterschied zu verstehen ?

Es gibt tatsächlich Coven, die zu jedem Jahresfest eine neue Göttin bzw. einen neuen Gott aus einem bestimmten, jeweils anderen Kulturkreis benutzen, die dann evoziert oder invoziert werden soll. Das Wissen über diese Gottheiten stammt dann meist aus mythologischen Lexika oder vom Hörensagen. Oft handelt es sich lediglich um eine Aneinanderreihung oberflächlicher Assoziationen.

Es gibt aber auch Hexen, die durch Visionen, Vorzeichen, Träume, Selbstwahrnehmungen und andere symbolische Beziehungsgeflechte eine innige Beziehung zu einem Gott oder einer Göttin aufgebaut haben. In dieser Gottheit sehen sie dann "die Göttin" oder "den Gott" in einer für sie geeigneten spezifischen Form.

Auch dies läuft oft auf eine kulturelle Aneignung hinaus - aber in einer Form, die mir sympathischer erscheint, als die erstere Variante: Weil es sich um ein Mindestmaß an innerer Auseinandersetzung mit ihr und Wahrnehmung der Wesenssubstanz der Gottheit handelt.

In der Identifizierung einzelner Menschen mit einer bestimmten Gottheit, in der Ineinssetzung persönlicher Wesenszüge mit mythischen Attributen der Gottheit, ergibt sich dann der Übergang zu einem mystischen Verständnis der Gottheitsidee.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pragmatischer Polytheismus als

neuheidnisches

Toleranz-Projekt

Von Juden und Römern wird uns ein Gottesverständnis überliefert, das allen universalistischen Gebräuchen des Neuheidentums und allen globalen Ansprüchen eines neuzeitlichen Intellektualismus wider den Strich laufen dürfte.

Eroberten diese bei einem Überfall oder einem Feldzug eine fremde Stadt, zerstörten sie entweder die Bilder der Gottheiten ihrer Kontrahenten, oder entführten und überführten diese in ihre Heimat.

Dahinter verbirgt sich die magisch-naturalistische Überzeugung, daß Gottheiten ein Stück gewachsene Natur oder Kultur, physisch antastbar und zur Disposition fremden Vernichtungswillens freigestellt seien.

Gottheiten galten aber nicht nur als symbolische Ausdrucksform der Macht des Gegners und einer anderen Kultur - denn auch wenn diese bezwungen war, konnte die Gottheit oder ihr Bild in den Dienst der eigenen Sache gezwungen werden.

Die Gottesidee, die sich dahinter verbirgt, wäre die eines geographisch verorteten, aber dennoch mobilen und frei transferierbaren Objektes, das mit einem gewissen Energiepotential versehen ist. Und jenes Potential wäre in diesem Sinne auch eher energetisch-physikalisch zu bewerten, als auf einer qualitativen- oder Bedeutungsebene. Die Möglichkeit, eine fremde Gottheit angesichts der Schwächung ihrer vorherigen "Besitzer" anzueignen, schließt im Fall ihrer Unbesiegbarkeit ein, daß man deren Gottheiten Respekt und Ehrerbietung zu erweisen hätte.

Hinter dieser Sichtweise kommt ein Gottesbild zum Vorschein, bei dem Außenstehende die Darstellung einer Gottheit durch ihre Anbeter genau so akzeptieren, wie sie von ihnen vorgebracht wird.

Anders ist die Akzeptanz des Heliand durch germanische Stammesangehörige als neuem Gott oder der Integration von Christus als Inkarnation Vishnus durch die Brahmanen des 18. Jahrhunderts nicht nachzuvollziehen. Auch der Katholizismus hat so gehandelt, indem er fremde Gottheiten in den Status von Heiligen überführte, und damit ihre Wirkmächtigkeit respektierte. Noch heute werden auf diese Weise ständig neue transzendente Entitäten als aktuale Heiligengestalten generiert: Heilig wird, über den viele sprechen, den viele für heilig halten, ohne daß man dessen gesellschaftliche Macht ignorieren könnte.

Erst in einem System wie der interpretatio romana erscheint ein universalistisches Moment in einer alten heidnischen Religion: Die Interpretation, daß die Germanen eigentlich die gleichen Gottheiten verehrten, wie die Römer, sie hingegen nur mit anderen Namen nennen würden.

Der Deutung des Fremden durch die archaischen Kulturen liegt natürlich die Abwägung von Macht, Übermacht oder Ohnmacht des Eigenen gegenüber dem Fremden und umgekehrt zugrunde.

Aber es ergibt sich in dieser Sichtweise auch ein denkbarer Ausgangspunkt für das Prinzip der Toleranz. Schließlich wäre eine Grundbedingung der Toleranz auch darin zu sehen, daß ich dem Anderen grundsätzlich ein sinnvolles und bedeutungsvolles Denken unterstelle. Die Auffassung, daß die Anderen aus gutem Grund das glauben, was sie glauben, auch wenn ihre Empfindungen und Wahrnehmungen für mich nicht reproduzierbar sind, wird für mich glaubwürdig durch das Faktische der von ihnen mitgeteilten Erfahrungen.

Die Überzeugung, daß jeder Gott und jede Göttin eine lebendige, erfahrbare Gottheit darstellen, ist weniger absurd, als man meint, wenn man sich die neuzeitliche christliche Missionsgeschichte anschaut. Schließlich ging es in ihr eben nicht mehr um "Entführung" der fremden Götter, sondern "aus gutem Grund" um ihre Vernichtung.

Die Alternative bestände in einer unvoreingenommenen, ethnologischen Perspektive, welche von dem Grundsatz ausginge:

"Alle Göttinnen und Götter sind lebende, respektable Wesen"

Vielleicht hätten wir darin auch eine Ausgestaltung der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte in bezug auf die "Theologie" zu sehen - eine Ausweitung der Gleichheit und Brüderlichkeit auf das Gebiet der Transzendenz.

Das würde bedeuten, daß diese Form von pragmatischem Polytheismus keine rückwärtsgewandtes, archaisierndes Religionsverständnis offenbarte, sondern ein Verständnis, das an der Wahrnehmung unserer Weltwirklichkeit orientiert ist.

 

 

 

 

Polytheismus oder

Monotheismus - eine Frage der

Perspektive

Die Idee, daß meine Gottheit oder die Gottheit meiner Stammesbrüder ebenso lebendig und wirkmächtig ist, wie diejenige eines Mitmenschen oder Nachbarstammes, läßt sich nicht mehr im monotheistischen Kontext vollziehen.

Selbst dann, wenn diese Gottheit für mich von außergewöhnlicher Macht und Bedeutung ist, beschränkt sich ihr Einfluß eben doch auf mein kleines Leben.

Die Vielfalt der Sozialstrukturen auf unserer Erde bedeutet also schon allein, daß der Himmel der Götter reichlich bevölkert ist. Insofern wurde schon bemerkt, daß z.B. die Juden in archaischer Zeit nicht als Monotheisten im modernen Sinne zu bewerten waren.

Menschen in archaischen Stammeskulturen können somit als strukturelle und pragmatische Polytheisten gelten. Entgegen der Selbstbestätigung des alten hebräischen Stammesgottes ist der "eigene" Gott der archaischen Religion eine Gottheit, neben der es viele, zahllose andere Gottheiten geben kann, die ihre Macht bei passender Gelegenheit erweisen.

Die Einsicht, daß der oder das Einzelne (ob Mensch oder Stammeskultur) keine Allmacht innehat über das Ganze der Welt oder des Lebens, gebiert eine Polyphonie der Transzendenz. Was zwischen dem "Anderen" jenseits der Grenze und mir gilt, wird auch sichtbar innerhalb der eigenen Sozialstruktur, ja innerhalb des eigenen, kontrollierten Stückchens Natur: Unterschiede der Bedürfnisse, der Interessen und der Ausdrucksformen zeichnen sich ab. Harmonie ist nicht die Selbstgefälligkeit des Einen, sondern das Gefallen des Einen gegenüber dem Anderen durch das Wechselspiel von Attraktion und Diskrepanz.

Die Frage der Alternative zwischen Poly- und Monotheismus entscheidet sich demnach im Verhältnis zwischen partieller Aneignung und partiellem Festhalten einerseits und einer offen erweiterten Schau andererseits. Das mag folgendermaßen zu verstehen sein: In der Regel ist es stets so, daß eine Vielheit von Kräften bekannt ist, von denen sich eine als besonders bedeutend und wichtig herauskristallisiert. Die Genese des iranischen, hebräischen und arabischen Eingottglaube läßt sich wohl dergestalt rekonstruieren, zum Teil sogar anhand seiner eigenen heiligen Texte.

Ein wesentliches Motiv dieser Verengung des Gottesbegriffs sind Tendenzen der Abgrenzung und der Abkehr vom Lebensausdruck, hin zu einer Überbetonung von Geist und Autorität. In den Texten kommt zum Vorschein, daß das Zugeständnis zur Vorherrschaft des "Einen" sehr wohl auf einer bewußten Abwertung und Abwendung gegenüber den "Anderen" besteht. Dies gilt hinsichtlich der eigenen Kultur, welche zuvor polytheistisch war, als auch im Verhältnis zu anderen Kulturen, deren Götter verteufelt und dem Untergang preisgegeben werden sollen.

Die Erkenntnis des Stellenwerts des Monotheismus als Theorie einer abstrakten Spätgeburt menschlicher Religionsgeschichte wirft die Frage auf nach seiner Pathologie.

Dies aber wirft ein bezeichnendes Licht auf all jene neuheidnischen Gottheitsvorstellungen, die sich auf Generalisierung, Abstraktion und globale Betrachtungsweise zurückführen.

Wenn "die Welt als Große Göttin", die "Welt als Göttliches Ganzes" und die zahllosen Götter als "der Gott" am Horizont erscheinen, ist bereits eine abstrakte gedankliche Vorarbeit geleistet, die an sich nicht mehr spontaner religiöser Kultur entspringen kann.

Allein die sozialen Vorraussetzungen, wie die Spezialisierung ritueller Tätigkeit durch Priesterkasten, sowie der ganze Komplex der "Gottesgelehrtheit" und der daraus entspringende Verlust an religiöser Unmittelbarkeit für die "Gläubigen" deutet auf die Bedenklichkeit dieser Konzepte.

Das religiöse Erleben ist ein singulärer Bewußtwerdungsprozeß, so daß die eben angesprochenen Gottheitsideen dafür zu hoch angesiedelt erscheinen. Es ist die Notwendigkeit einfacher sinnlicher Unmittelbarkeit und ihre individuelle Besonderheit, die die Vereinheitlichungsprojekte übersehen.

Aus all dem resultiert der Grundkonflikt zwischen Polytheismus und den erwähnten universalistischen Konzeptionen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Animistischer Polytheismus

"Alles ist erfüllt von Göttern"

Die Vermutung, daß etwas ähnlich Erscheinendes mit bereits Bekanntem identisch sei, zählt scheinbar zu den notwendigen Illusionen, denen der Mensch sein Überleben verdankt. Nietzsche macht aber in "Menschliches, Allzumenschliches" (1. Hauptstück, Nr. 18) die interessante Feststellung, daß die niederen Organismen dem Menschen den Glauben vererbt hätten, daß es gleiche Dinge gebe. Der Urglaube alles Organischen sei vielleicht sogar, daß die ganze übrige Welt Eins und unbewegt sei.

Letztendlich wäre dies eine der Vorraussetzungen des Pantheismus. Der Animismus geht gleichfalls davon aus, daß sich eine alles umfassend zutreffende Aussage über die Welt machen läßt: Aber er geht nicht von der Einheit, sondern von der unendlichen Vielfalt der Welt aus. Diese geradezu beängstigende Unberechenbarkeit, die jedes greifbare Phänomen von jeder anderen beliebigen Erscheinung unterscheidet, würde uns in eine Welt des völlig Unbekannten versetzen.

Demgegenüber bevorzugt der Mensch zu seinem Schutze eine Wahrnehmung, die die Vielzahl der Phänomene in großen Kategorien zusammenlaufen läßt, die einen letztendlichen hintergründigen Zusammenhang der Dinge suggeriert. Die scharfen Zähne des Säbelzahntigers, die mimische Agressionsverheißung eines Hundeantlitzes das sind symbolische Werte von gleichbleibender Berechenbarkeit.

Insofern ist der Mensch gezwungen, in begrenzten Formen wahrzunehmen und so schließlich "die Welt in seinem Kopf zu erzeugen".

Und doch ist darin die Erscheinungsmöglichkeit der Welt für uns nicht ausgeschöpft.

Das wutverzerrte Hundeantlitz kann ein Versprechen auf den zerfleischenden Biß darstellen aber es kann auch einfach nur eine Drohung beinhalten, die mein Handeln zu einem glückverheißenden Ende führt.

Dort, wo Menschen sich auf die Automatik von Signalreizen einlassen, verlieren sie das Gesicht eines lebendigen Wesens, degenerieren sie zur Personifikation einer Maschinenmetapher.

Die Alternative besteht umgekehrt darin, in voller Offenheit für alles Unbekannte auf die Welt zuzugehen, sie also jedesmal völlig neu und unbeeinflußt wahrzunehmen.

Es gibt mythische Sequenzen, die dieser Bewußtseinslage zu entsprechen scheinen. So berichten manche Mythen davon, daß die morgens am Horizont aufgehende Sonne die Tochter der abends in der Finsternis zugrunde gegangenen Mutter darstellt.

Die Märchen als Archive der Jäger- und Sammlerkultur lassen uns an einer Welt partizipieren, die ständig überraschende und unbekannte Geschehnisse und Wesenheiten hervorbrechen läßt.

Der an einem heiligen Baum wie z.B. einer großen alten Eiche verehrte Gott wurde oftmals als in dem Baum lebend und an ihn gebunden dargestellt, fest gebunden an das organische Leben des Baums. Der Baum figuriert hier also nicht als der zeitliche Ausdruck einer "archetypischen" Idee: Etwa also die heilige Eiche als "Gefäß" des Donnergottes. In der archaischen Sicht ist der Baum selbst der Gott.

Die mit dem Begriff des Animismus einhergehende Vorstellung einer universellen Belebtheit bzw. Lebendigkeit aller begegnenden Wesen und Dinge beinhaltet eine unendliche Vielfalt lebenerfüllter personaler Kräfte im Pflanzen-, Tier-, und Mineralreich, ja selbst im Bereich zivilisatorischer Objekte.

Natürlich ist dem Verdacht nachzugehen, daß der Mensch einer solch archaischen Weltsicht seine eigene Personalität auf die Außenwelt projiziert. In gewisser Weise kommt im Animismus in der Tat ein Versuch zum Ausdruck, sich die Welt so nah und vertraut wie nur irgend möglich zu gestalten.

Andererseits wird dies nur möglich sein, wenn der Aufmerksamkeitsgrad gegenüber den "anderen Wesen" so hoch wie nur irgend möglich geschraubt wird. Die Intensität des Bewußtseins richtet sich mit ganzer Kraft auf die spezifischen Regungen und Wesenszüge von Tieren, Pflanzen, Naturkräften und "Dingen". Insofern ist die Bereitschaft zur ständigen Weite und Erweiterung des Bewußtseins eine wesentliche Vorraussetzung des Animismus. Es ist die Bereitschaft, mit der eigenen Umgebung zu kommunizieren, sich in Beziehung zu ihr zu setzen, Sinne und Wahrnehmung auf allen Ebene zu eröffnen.

Im Animismus scheint mir das höchste Maß an religiösem Wirklichkeitssinn erreicht zu sein: Religiosität ist hier nicht mehr Vorsatz, Mutmaßung, Glaube als Wunschgebilde es ist vielmehr Anerkenntnis des Tatsächlichen und seiner Macht in der Umwelt des Menschen. Es ist Naturreligion in ihrem eigentlichsten Sinne.

Der Mythos trägt dem auch Rechnung in dem Phänomen der unbekannten Gottheit, die sich dem Menschen ungeachtet seines vorgeblichen Vorherwissens offenbart, ihre Macht und Stärke demonstriert. In den Märchen sind es Tiere, Pflanzen oder Geister, die, vorher dem Menschen unbekannt, ein einziges Mal als Helfer (oder Geschöpfe des Grauens !) auftreten, um dann für immer von der Bühne des Lebens abzutreten.

Wie sehr viel anders sind sie im Verhältnis zu jenen Göttern, die den Menschen oder ein Volk ein ganzes Leben lang in den Würgegriff nehmen, sich einen elitären Apparat zu ihrer Verehrung reservieren oder sogar ihre Urteile über den Tod hinaus sprechen.

Im Hinduismus ist fast scherzhaft die Rede von "300 Millionen" Göttern. Dabei handelt es sich eigentlich nur um eine Anspielung auf die unendlich große Zahl der göttlichen Wesenheiten.

Der Animismus läßt sich auf diese Weise deuten als Reich der religiösen Freiheit, wie sie in der Kultur der Jäger und Sammler möglich war. Frei schweifende Menschen, die die Gaben der Natur annehmen, auch verschwenden und verjubeln - ohne diese Gaben erzwingen zu wollen oder ihre Fülle zu manipulieren, indem sie sie ihrem eigenen Gebrauch und dem ihrer Mitmenschen durch Hortung vorenthalten.

Zugleich stellt der Animismus das denkbar größte Maß an Balance zwischen den Kräften des Einzelnen und den ihm begegnenden Kräften dar.

Erst hier wird das Messen der Kräfte sinnvoll und denkbar.

In einer Welt der einheitlichen Substanz (wie im Pantheismus), in einer Welt der übermächtigen Personen (wie im Kult der Großen Göttin als auch im Duotheismus), in einer Welt, in der ich meiner Stammesgottheit untertan bin - in all diesen Welten sind Neugier und Interesse am noch nicht Dagewesenen prinzipiell entbehrlich.

Das Leben der Göttin, die den Gott gebiert, um ihn zu lieben und dann irgendwann zu töten, die "Frau Welt", die das Rad des Jahres ewig und immer dreht - ist das nicht wie eine große Maschine, wie eine tote Mechanik, in der keine schöpferische Entscheidung mehr möglich ist ?

Die Welt des Animismus wäre ein Gottheitsbild ohne Bild, nur geschöpft aus dem Unausweichlichen.

Und doch mündet er an einem bestimmten Punkt wieder in das Bildnerische ein - dort nämlich, wo das Reich der menschengestaltigen Gottheiten und ihrer Bilderwelten endet - um ins Reich des Tierhaften überzugehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Urbaner Schamanismus

"Mein Totemtier ist mein Gott, meine Göttin"

Gottheiten, die in menschlicher Gestalt erscheinen, verkörpern den Menschen als Gattungswesen, bei Göttinnen in seiner Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, bei Göttern in ihrer Beziehung zum männlichen Geschlecht.

Bei Göttern, die über Göttinnen herrschen oder triumphieren, ist es die Macht von Menschen über Menschen, die sich im Himmel der Götter gleichsam abbildet.

Was aber ist der Mensch ? Was unterscheidet ihn von den zahllosen anderen Wesenheiten in der Welt, die mit Wurzeln am Boden haftend oder mit vier Pfoten auf der Erde laufend die Welt erfüllen ?

Die gänzlich überhebliche Idee, daß die Welt um des Menschen willen geschaffen sei, daß der Mensch das Maß der Dinge sei, lassen wir lieber hinter uns.

Aus der Naturerkenntnis erlangen wir die Einsicht, daß der Mensch nicht das Erste, sondern das zuletzt erschienene Wesen in der Kette der Lebewesen ist. Und zugleich dasjenige Wesen, das gegenüber dem Leben und der Natur am unsichersten und am meisten entfremdet ist.

Viele Menschen spüren das auch mit ganzer Macht: Deshalb kleiden sie ihr Bedürfnis nach einem ursprünglichen Sein in das Bild eines Tieres. Das Tier verkörpert in seiner Wesensart und seinem Verhalten das Anrecht des Menschen auf ein ursprüngliches Leben.

Wenn Menschen diese Einsicht innerlich bejahen, sind sie sich klar über die eigene Tierhaftigkeit. Sie spüren, daß alle diese von der Zivilisation zurückgewiesenen sinnlichen Impulse und Affekte tierisch-instinktiven Charakter haben, daß diese Strebungen ihr Menschsein einer größeren Kommunion mit dem Tierreich ein- und unterordnen. Wir alle sind Tiere, wir sind grundsätzlich nicht wertvoller oder höherrangiger als Vierbeiner, Vögel oder Fische. Wir haben nur andere körperliche Formen, Lebensweisen und Bedürfnisse.

Wer das nicht irgendwann in einer stillen Stunde wenigstens einen Augenblick lang begriffen hat, weiß fast nichts von sich und seinem Leben.

Nur wer das begreift, wird auch verstehen, daß wir kein Recht auf Ausbeutung und Unterdrückung anderer Tiere haben. Denn Empfindungen und Gefühle und ein Bedürfnis nach Freiheit und Entfaltung teilen wir mit den Tieren. Wir lassen uns auch dressieren und körperlich-seelisch deformieren oder verstümmeln, wie wir es den Tieren zufügen.

Natürlich ist das Verhältnis des Zivilisationsmenschen zum Tier überwiegend kein sinnlich-naturnotwendiges. Der Mensch des Waldes tötete Tiere, um zu überleben. Sein daraus resultierendes Schuldgefühl war es unter anderem, was ihn zu einer kultischen Versöhnung mit dem Tier veranlaßte. Dadurch z.B. konnte das Tier zu einem Wesen von überragender Wichtigkeit und damit zur Gottheit werden.

Darüber hinaus begegnete der Mensch des Waldes und der Steppe ständig Tieren, vielleicht vielfach häufiger als Menschen. Er erkannte, wenn Tiere Eigenschaften oder Fähigkeiten hatten, die sie dem Menschen gegenüber auszeichneten.

Dem Tier verpflichtet zu sein durch Schuld - und seine Überlegenheit in mancher Hinsicht anerkennen zu müssen: Das macht das Tier zur Gottheit, das macht besondere Tiere zur Gottheit einer Sippe, eines Stammes.

In Träumen und Visionen begegnen die Tiere auserwählten Stammesmitgliedern, überbringen sie Botschaften, Hilfe und Forderungen.

Am Beispiel des Schamanismus manifestiert sich die große Frage an das Neue Heidentum, ob es authentische Religiosität zu sein vermag oder billiger okkulter Tand.

Wie ist es zu bewerten, wenn Menschen in Berlin, Düsseldorf oder New York ein Tier als Totem, als Sippengeist wählen, das in den Dschungeln von Sumatra oder in der Kalahari lebt ? Wie ist es ferner zu sehen, wenn Individuen dies praktizieren, die über keinerlei tragfähige soziale Beziehungen verfügen - ungeachtet der Tatsache, daß der Schamane die Kontakte zum Totem im Dienst einer Sippe oder eines Stammes pflegt ?

Die Gemeinschaft mit der tiergestaltigen Gottheit könnte auf folgenden Grundlagen Wirklichkeitscharakter erlangen:

1. Wenn ein Tier für Dich Bedeutung erlangt, könnte dies z.B. daran liegen, daß diese Tierart eigene bedeutsame Wesenszüge verkörpert, die bisher nicht zur Geltung kommen konnten

Die Versöhnung mit diesen Wesenszügen, ihre Annahme und Aufnahme in die eigene Lebensweise wäre dann der Apell, den dieses Tier an uns richtet. Das Auftreten dieses Tiers ist also gleichfalls ein Zeichen von Schuld, nämlich der Schuld, die wir durch die Unterdrückung dieser tierhaften Wesenzüge auf uns geladen haben. Es ist also eine Schuld gegenüber einem Teil unserer Selbst.

Bei dieser Gelegenheit stellt sich auch die Frage danach, wer wir eigentlich sind. Daß ein Mensch eine vollständige, kompakte, schlüssige und abgegrenzte Einheit gegenüber der Außenwelt darstellt, ist eine relativ seltsame Theorie, die erst entstehen konnte, als sich der neuzeitliche Druck zur Herausbildung eines konsistenten Ich-Empfindens einzustellen begann.

Die lkonographie der Dämonen konterkariert diese These durch die Darstellung der teilkörperlichen Wesenheiten am Leib des Dämons.

2. Der nächste Schritt nach der Erschließung der persönlichen inneren Tiergestalt wäre dann die soziale Vernetzung mit anderen Menschen, die über das gleiche Totem verfügen. Dieser Schritt ist von absoluter Wichtigkeit als Antwort auf die Frage nach der Authentizität.

Die Bildung von Mythen, das mythische Erzählen ist eine Form gesellschaftlicher Kommunikation und nur so bildet sich ein Wissen, das weitergegeben werden kann. Und die Identität des Schamanen ist eine besondere gesellschaftliche Rolle, in der man, durch ein besonderes Visionserlebnis verursacht, eine Mittlerrolle zwischen dem Totem und der Gemeinschaft übernimmt.

3. An einer besonderen Tatsache kann wohl niemand vorbeigehen: Menschen in der modernen Zivilisation begegnen Tieren überwiegend an zwei verschiedenen Orten: Entweder in der Zoohandlung oder an der Tiefkühltruhe eines Supermarktes.

Ich sage damit nicht nur etwas Zynisches. Aber das ist die millionenfache Wirklichkeit der Beziehung zwischen Mensch und Tier in der großstädtischen Massengesellschaft.

Wer sich das nicht klarmacht, hat von der Arroganz und der Naturentfremdung unserer Zivilisation nichts begriffen.

Wer die Verantwortung dafür trägt, daß Millionen von Tieren gequält und getötet werden, um uns als Nahrung zu dienen, nimmt Schuld auf sich. Diese Schuld existiert, ob man sich nun dessen bewußt ist oder nicht. Dieses Faktum der millionenfachen Ermordung zu unserem Vorteil ist ein erheblich härteres, wirksameres Faktum, als die windelweichen Traumreisen bildungsbourgeoiser Esoterik-Schamanen. Es stellt sich also die Frage, ob man nicht diese Schuld eingesteht und diese Tiere, die auf dem Altar unserer Freßgier geopfert wurden, in die eigene spirituelle Empfindungswelt miteinbezieht.

Oder meinst Du vielleicht, daß Dein eigenes beschissenes kleines Zweibeinerleben wertvoller ist, als das Leben jenes Huhns oder jener Ente, deren Körperteile Du eben aufgefressen hast ? Wie kommst Du denn darauf ?

Natürlich steht es weiterhin jedem "Stadtschamanen" frei, sich auf einer Gymnastikmatte liegend in der Karibik zu tummeln - mit seinem Kakadu-Totem.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Variationen des

traditionalistischen Polytheismus I.

(Funktionaler naturalistischer Polytheismus)

Götter der Gestirne und des Himmels, Göttinnen der Erde und des Wassers

Rhythmus und Bewegung erzeugen Schwingungen, die immer wieder Ähnliches zutage treten lassen. Tag und Nacht, Sonne und Mond, Wasser und Feuer, Tiere und Pflanzen: Die großen beeindruckenden Faktoren der Natur, von denen unser Leben abhängt, und die größer sind, als das Reich der Menschen - dies sind beherrschende Mächte, die bestimmte Zustände erst in ihrer Gegensätzlichkeit und damit Vielgestalt ermöglichen.

Menschen erzielen ihre Beziehung zu diesen Mächten zugleich mit dem Postulat der Wiedererkennung ihrer Kraft, aber auch mit der Personifizierung ihres Wirkens.

Im naturalistischen Polytheismus tritt in schärfster Form das hervor, was Blumenberg als "Absolutismus der Wirklichkeit" bezeichnet. Den Menschen wird bewußt, daß es Kräfte in der sie umgebenden Welt gibt, die erheblich machtvoller und weitaus weniger beeinflußbar sind, als sie selbst, oder die menschliche Gemeinschaft.

Die gleichmäßige Gegenwart dieser Mächte, das Faktum, daß sie immer wieder ins Bewußtsein treten, macht sie unübersehbar, führt zu einer dauerhaften imaginativen Gestaltungsarbeit an jenem Bild, das sie im Innern des Menschen zurücklassen.

Es ist eine Gewohnheit in der äußeren Wahrnehmung durch Jahrhunderte und Jahrtausende, die dieses Bild immer weiter verfestigt, mit klaren, begrenzten, eindeutig definierten Zügen ausstattet. Dies gilt für das innere Vorstellungsbild des polytheistischen Menschen ebenso wie für den erzählerischen Austausch über die Beschaffenheit dieses Bildes zwischen den Menschen eines Stammes.

Damit wir keine antbropologischen Mythen heraufbeschwören mögen: Beides, die Imaginationstätigkeit des Individuums und die Kommunikationstätigkeit zwischen den Individuen in der Außenwelt bedingen sich gegenseitig.

Die Macht der Bilder resultiert aus dem Transfer zwischen dem inneren und dem sozialen Menschen, sie wächst nicht auf geheimnisvolle Weise aus einem biologischen Substrat.

Die Gleichmäßigkeit und Bestimmtheit von "Naturgottheiten" erwächst vor allem aus zwei wesentlichen Faktoren: Der für die Ernährung der Menschen erforderlichen wirtschaftlichen Tätigkeit und den landschaftlichen und klimatischen Besonderheiten, die seine Lebenswelt auszeichnen.

Die Dankbarkeit und Offenheit im sinnlichen Erleben der Welt kann im naturalistischen Polytheismus genauso ausgeprägt sein, wie im Animismus. Aber bei ersterem sind Gleichmaß in der Lebensweise und Verharren an einem bestimmten Ort die Basis für einen klarer beschreibbaren und enger begrenzten Kontext an Kräften.

Diese Begrenztheit wirtschaftlicher Ziele und landschaftlicher Substanz führt aber auch zu einer Fixierung in der inneren Bildefähigkeit und in der emotionalen Dynamik. Man wird sich die Frage stellen, wie man den "ländlichen Polytheisten" gegenüber dem "jägerisch-sammelnden Animisten" bewerten darf. Man sollte das hedonistische Potential des ersteren nicht über-, und die Komplexität der Lebensweise des letzteren nicht unterschätzen.

In einer Kultur beispielsweise, die sich dem Anbau von Feldfrüchten widmet, wird der Kraft des Himmels als Regenspender, der Sonne als Lichtspenderin und der Erde als Hervorbringerin kontinuierliche Aufmerksamkeit zuteil.

Diese Kräfte sind unterschiedlich, ihr jeweiliges Mischungs- und Beziehungsgefüge ist sehr unterschiedlich, je nach der Jahreszeit, je nach dem Punkt der Erde, an dem die Menschen leben. Wie bei einem guten Gericht aus Fleisch, Gemüsen und Gewürzen, das nur mit Hilfe eines Behältnisses und eines Feuers zustande gebracht wird, ist das betreffende Leben eine Symphonie verschiedener Instrumente, die erst eine Melodie erzeugen.

Die Wahrnehmung des antiken Polytheismus als absurder Tratschkomödie beruht bereits auf einer Form von Vermittlung, bei der das Lebensnotwendige des polytheistischen Entwurfs ersetzt wurde durch die Sucht nach Unterhaltung auf niedrigstem Niveau.

Aber auf der Stufe des ursprünglichen naturnahen Polytheismus sind all diese vielen unterschiedlichen Gottheiten notwendige Bestandteile, die auf ein gemeinsames Ziel hinwirken: Die Gestalt einer Landschaft, ihre innere Balance und das gute Leben des Menschen mitten darin - aber auch die Infragestellung und Bedrohung alles dessen.

Die Vielgestalt der Naturkräfte in vielen alten Mythologien zeigt zugleich die Differenziertheit der Naturerkenntnis und der Erkenntnis der Zusammenhänge in der Natur.

In der Abhängigkeit des Menschen von bestimmten einzelnen Kräften, wie etwa der Getreide hervorbringenden Erde oder dem schiffbaren Meer zeigt sich natürlich die Unterordnung, die Ausgeliefertheit des Menschen an etwas Besonderes, wie es in einer fortentwickelten, überentwickelten Kultur der Fall ist.

Durch Vermenschlichung der Naturkräfte versucht der Mensch, sein Ausgeliefertsein erträglich und in Grenzen zu halten. Menschliche Gestalt schafft Rückbezug auf sich selbst, Vertrautheit und Nähe.

Je vielfältiger sich die Natur in ihrer Erscheinung jedoch darstellt, desto komplexer die Balance der Gottheiten zueinander, umso eigenständiger und vielseitiger sind die Menschen in ihren Reaktionsmöglichkeiten und in ihrer gesellschaftlichen Gegenseitigkeit.

Landschaftliche Einförmigkeiten und ökonomische Monokulturen schaffen eine stärkere Akzentuierung einzelner Gottheiten, die mit einem entsprechenden Abbau menschlicher Autonomie verbunden ist. Dafür seien einige Beispiele genannt: Die Systematisierung des Anbaus von Feldfrüchten in Vorderasien führt, in Verbindung mit einer neuen bäuerlichen Arbeitsethik zur Herausbildung eines matriarchalischen Monotheismus, die sich in Form eines blutigen Absolutismus manifestieren kann (Kybelekult).

In Europa führt eine sogenannte "kleine Eiszeit" zur Entstehung eines lebensfeindlichen Monotheismus, die einen göttlichen Vater als gehorsamsheischende, willkürlich-unerkennbare Macht postuliert. Puritanismus und Calvinismus sind es, die damit den bunten Polytheismus des mittelalterlichen Heiligenkults ablösen.

Diese irisierende Fluktuation zwischen strukturellem Polytheismus und einem sich aus ihm herausbildenden Monotheismus als Tyrannei eines Einzelnen ist in vielen Religionen erkennbar, auch in "heidnischen".

Zu Recht hat man beispielsweise auf die Parallelen zwischen Jahwe und Odin hingewiesen - beide militante Heerführergottheiten, die frühere Fruchtbarkeits- und Naturreligionen ablösen, und in kriegerischen Verwicklungen ihrer Stämme ein adäquates Gottesbild generieren.

Die Einengung der Weite des Naturerlebens auf ein kleines, örtlich fixiertes Areal, die Immobilität und die damit einhergehende Spezifik einer menschlichen Gesellschaft schafft Formen von Religion, in denen man sich von naturreligiöser Unvoreingenommenheit entfernt.

Je archaischer eine Gesellschaft, desto weitgespannter die Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen, umso größer die Vielzahl an Rollen, die er selber zu spielen vermag.

Wo sich aber Monotheismus, Monokulturen und Entfremdung gegenüber der Lebensvielfalt entwickeln, triumphieren auch Kastengesellschaft und hierarchiebezogene Entmündigung.

Wo Entscheidungen im Inneren von Tempeln und im Namen mysteriöser Gottheiten getroffen werden, steigt mit der Infantilisierung des Einzelnen auch seine Erlösungsbedürftigkeit.

Der naturalistische Polytheismus spricht im Gegensatz dazu Gottheiten Aufgaben und Fähigkeiten zu, die sie berechenbar und hilfreich machen. Das Bild der Göttersippen entspricht den in einer bäuerlichen Haushaltung verteilten Aufgaben und Zielsetzungen, dem Aufeinanderangewiesensein aller Beteiligten.

Die Verteilung von Macht, Einfluß und Bedeutung auf viele Schultern schafft eine Vielzahl vorher nicht berechneter Möglichkeiten des Menschen gegenüber seinen Gottheiten: Vorraussetzung persönlicher Freiheit. Das ist ein fundamentaler Gegensatz zur Ausgeliefertheit des Menschen gegenüber dem absoluten Willen der Einen Gottes.

Polytheismus erlebt in gewissem Sinne seine Wiederkehr in moderner Demokratie, Gewaltenteilung und freiem gesellschaftlichen Diskurs. Je mehr sich diese politischen Formen verstärkten in der Geschichte der Neuzeit, desto stärker ging der Einfluß der monotheistischen Priesterkasten und Kirchen zurück - ein bemerkenswertes Beispiel für die vielen Masken des Religiösen.

Die Begegnung des Menschen mit personifizierten Naturkräften muß nicht nur existenzielle Abhängigkeit von der Versorgung durch höhere Wesen bedeuten.

In einer fortgeschrittenen, artifiziellen Zivilisation urbaner Prägung deutet der Mensch den Begriff der Natur als Reich der Freiheit: Freiheit von den Zwängen und Normen der Zivilisation. Und hier kommt es zu einer ästhetisch-romantischen Wahrnehmung der Naturkräfte und ihres Zusammenspiels, das sich zu mystischer Intensität und Unmittelbarkeit steigern kann. Damit ist nicht gesagt, dass dem archaischen Menschen diese Form der Naturbetrachtung unbekannt war.

Zu berücksichtigen ist aber zweierlei: Die Besonderheit des Naturbegriffs in der Neuzeit ist in stärkster Weise als dialektische Gegenbewegung zur Unbedingtheit der Zivilisation zu sehen. Das ist neu, es ist nicht der gleiche Naturbegriff, wie der des Jäger oder Bauern. Und ferner ist die in der urbanen bürgerlichen Gesellschaft herrschende Freiheit von existenzieller Not eine Situation, die eine viel bedingungslosere und unbeschwertere Hingabe an diese Art von Natur ermöglicht.

Ich möchte gerade diesen Sachverhalt jenen zur Warnung aussprechen, die glauben, durch einen Rückbeziehung auf frühere historische Epochen die Gegenwart im positiven Sinne verändern zu können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Variationen des traditionalistischen Polytheismus II.

(Funktionaler gesellschaftlicher

Polytheismus / Ahnenkult)

 

Gottheiten und ihre Bilder entstehen nicht unbedingt aus religiöser Innerlichkeit und entrückter Betrachtung allein. Auch das Antlitz des Anderen und die Widerspiegelung des Eigenen gerinnen zu einer Fülle von Macht, die transzendente Dimensionen erlangt.

Besonders dort, wo sich Macht von Menschen über Menschen geheimnisvoll und furchterregend darstellt, werden Gottesbilder genährt.

Kriegerische Fürsten bevölkern die Götterhimmel in hellen Scharen.

Aber es gibt auch sympathische Gottheiten, die aus Berufen und zivilisatorischen Verrichtungen entstanden sind. Die Quelle der Faszination, die sie verströmen, liegt in der unbegreiflichen Zaubermächtigkeit ihres handwerklichen Könnens und dem hilfreichen Wert der von Ihnen hergestellten Gegenstände. Diese können in personal animistischer Ausstrahlung etwas vom Wesen ihrer Schöpfer widerspiegeln.

Eine derartige Verlebendigung von Gegenständen spiegelt sich beispielsweise in der Namensgebung für Schwerter wider, wie wir sie aus der Epoche der germanischen Völkerwanderungszeit kennen. Es sind zwei Aspekte, die das Numinose machtvoller Gegenstände konstituieren: Die Wesenssubstanz ihrer Produzenten, aber auch ihr Gebrauchswert für den späteren Besitzer.

In den Gottheiten der Schmiedekunst (Wie etwa dem germanischen Wieland oder dem griechisch-römischen Hephaistos/Vulcan) oder des Gartenbaus (Die antiken Hermen bzw. Sylvanus) tritt uns ein derartiges Faszinosum entgegen.

Die Gottesvorstellung, um die es hier geht, bezieht sich in vollem Maße auf die zwischenmenschliche Abhängigkeit: Bei dem bereits Geschilderten auf die Abhängigkeit von besonderen Fähigkeiten bestimmter Gruppen (Berufe) und besonderer Individuen in diesen Gruppen. Und ferner ist das Numinose einer herausragenden Berufsgruppe immer auch eine Rückerinnerung an zivilisationshistorische Schöpfungs- und Überwindungsphasen: Krisensituationen der Menschheits-entwicklung.

Darüber hinaus geht es aber nicht nur um Abhängigkeit von anderen, sondern auch um die Möglichkeit zur Erwerbung neuer Fähigkeiten. Gottheiten, die also auf diese Weise gesellschaftliche Aufgaben verkörpern, haben sowohl einen selbstreflexiven als auch einen sozialpsychologischen Charakter.

In jedem Fall beweist die Bedeutung dieser Gottheiten, dass Religiosität nichts "Naturwüchsiges" oder Biologisches darstellt, sondern mit kulturellen Vereinbarungen und Auseinandersetzungen zu tun hat: Daß sie unter anderem auch das Resultat menschlicher Bewusstseinsarbeit darstellt, die aus dem gegenseitigen Informationsaustausch innerhalb von Menschengruppen gespeist wird - In diesem Fall aus einer wechselseitigen Statuszuweisung, die auf der Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und denen des anderen beruht.

An diesen einfachen Einsichten ändert sich auch nichts durch die zeitweilige Bewusstlosigkeit innerhalb von Kastengesellschaften, bei denen die Verfestigung der gesellschaftlichen Struktur den Vorrang vor der rationalen Bewältigung der Lebenserfordernisse der Gemeinschaft hat.

Jene biologistischen Sozialphilosophen, die von einer stammesgeschichtlichen Ursächlichkeit gesellschaftlicher Funktionen ausgehen ("Archetypik der Kasten und Stände") ignorieren natürlich gern und beharrlich die weltweite Vielschichtigkeit sozialer Funktionsmodelle. Deshalb sollte man zwar den machtpolitischen Rang solcher Wissenschaftler in der Wissensproduktion ernst nehmen, aber ihre Argumente einer rationalen Wertschätzung unterwerfen.

Es gibt aber noch eine viel allgemeinere Abhängigkeit des Einzelmenschen:

Sie hängt nicht mit der abstrakten gesellschaftlichen Ökonomie sondern mit der persönlichen Abstammung und den damit einhergehenden verwandschaftlichen und familiären Verhältnissen zusammen.

Die Blutsverwandschaft ist eine Konfiguration präsenter Personen der eigenen Lebensspanne, aber auch die Verstorbenen sind darin eingeschlossen. Die Ahnen und ihr durch Erzählungen und Erinnerungen geprägtes Bild ist einer der maßgeblichsten Impulse für Gottesbilder überhaupt. Väter und Mütter, Vor-, Groß- und Urgroßväter und Mütter sind ebenso wirkmächtige Gestalten im mythischen Raum, wie verstorbene Geschwister, Onkel und Tanten.

Es ist natürlich ein Leichtes, vorhandenes mythisches Material in dieser Richtung zu interpretieren. Oft werden diese Deutungen aber etwas zu voreilig und eilfertig sein, wie alle bisherigen Kapitel deutlich zeigen.

Und dennoch braucht man nur einen Augenblick die Bedeutungsschwere und die Erlebnisintensität der Wahrnehmung der eigenen Ahnen zu reflektieren, um ihren Stellenwert als Gottheitsgestalten zu ermessen.

Um einige historische Konkreta zu erwähnen: Der farbige Polytheismus des katholischen Heiligenkults gründet sich primär auf die Vorstellung, dass ein bedeutender Mitmensch nach seinem physischen Ableben eine außergewöhnliche spirituelle Wirksamkeit aus einer anderen Welt heraus entfaltet.

Die hier vorliegende Wirkmächtigkeit hat zwar einen dualistisch-transzendentalistischen Charakter, doch ist sie letztlich verwurzelt in der anthropologischen Wirklichkeit einer realen menschlichen Biographie. Allein daraus resultiert das naturalistische Potential ihrer Spiritualität.

Eine weitere Verdeutlichung erfährt die Idee der "Ahnen als Gottheiten" durch das generative Erscheinungsbild machtgeladener Gottheiten: Wo große, weißhaarige und von uraltem Wissen erfüllte Gottheiten (Männer wie Frauen) die Szene beherrschen, bezieht man sich zweifellos auf "die Vorfahren", eben die, die vor uns da waren und die um die Erlebnisse und Erfahrungen vergangener Jahrtausende zu wissen scheinen.

Schon fast jeder wird es in heidnischen Gruppen erlebt haben, dass Bewertungen führender Mitglieder aus derartigen "familiären" Projektionen herrührten. Und diese spielen mit derlei Bedeutungen, indem sie sich mit einer Aura "altväterlicher" oder wahlweise "altmütterlicher" Göttlichkeit umkränzen.

Genau dieser Unsinn einer Einengung der Gottheitsfülle in die Begrenztheit einer einzelnen Person war es, die zu Recht zum Protest gegen das römische Papsttum führte. Soll sich die neuheidnische Bewegung noch hinter derartige Mutationen der Psychopathologie abendländischer Geschichtlichkeit zurückbewegen ?