Sollten wir uns vom "Heidentum"
verabschieden ?

I.

Als ich Anfang der Achtziger Jahre die ersten "Heiden" kennenlernte, waren die Hoffnungen auf einen Beitrag der heidnischen Bewegung zur Veränderung des gesellschaftlichen Lebens noch nahezu grenzenlos. Eine zweifache Befreiung der Heiden und aller anderen Menschen schien sich anzukündigen, die von einem allgemeinen Aufschwung der New-Age-Euphorie getragen wurde: Einmal die Loslösung von einer zweitausendjährigen Epoche kirchlicher Unterdrückung, die mit einer Wiedergeburt uralter vorchristlicher Kulturen Europas einherzugehen schien.
Und zum andern die Überwindung der schädlichen Folgen einer technischen und städtischen Zivilisation, die in unserer Empfindung als Barriere zwischen dem Menschen und einer "reinen" und "ursprünglichen" Natur erwachsen war.
Wir werden uns nun, nach nahezu zwanzig Jahren, die Frage stellen dürfen, was aus all diesen Hoffnungen geworden ist. Und wenn wir das betrachten, was sich uns als Realität unseres Lebens, der Kultur und Politik darbietet, gewinnen wir keinen besonders günstigen Eindruck.
Unser Eindruck von der Welt, wie sie sich seitdem entwickelt hat und von der Rolle der "heidnischen Bewegung" darin ist eher katastrophaler Natur.
Schauen wir uns in Form einer persönlichen Momentaufnahme zunächst einmal diese Bewegung an, die vielleicht nie eine war.
Vor rund 15 Jahren in Berlin, wo ich mit verschiedenen Leuten eine heidnische Gruppe gründete, waren darunter die Vertreter der verschiedensten heidnischen Richtungen. Es waren Anhänger einer germanischen Religion, die sich ihre Weisheit aus der Edda holten. Es waren völkische Heiden, die bemüht waren, ihrer faschistischen Ideologie eine spirituelle Unterfütterung zu verpassen. Es waren Leute, die sich für volkstümliches Brauchtum interessierten und es waren Menschen, die sich einer alten Religion der Hexen verbunden fühlten. Als wir gemeinsam ein Ritual der Wintersonnenwende zelebrierten, das von einem Exponenten des Hexenkults geleitet wurde, kam es zum Eklat. In diesem Ritual hatte er sich mit einem Gott aus der germanischen Mythologie identifiziert und diese Form von Einswerdung auch sehr dramatisch und lebendig zum Ausdruck gebracht.
Der Vorwurf lautete auf Blasphemie, die in der "Anmaßung" einer solchen Identifikation läge und wurde in einem sich sofort in zwei Lager formierenden Auditorium sowohl bekräftigt als auch heftig befehdet.
Die zwei Grundeinstellungen, die in dieser Fehde zum Ausdruck kamen, sind kurz umschrieben: Während die Einen eher ein mystisches Verhältnis von größter Nähe zu den alten Göttern erstrebten, standen die andern in starrer Unterwürfigkeit verbunden mit allergrößter Angst vor den Folgen ihres Frevels vor jenen Gestalten.
Am Schlimmsten war der Vorwurf, der gerade sehr strenge Winter, bei dem Temperaturen von weit unter Minus 20 Grad herrschten, und bei dem einige alte Leute in ihren Wohnungen erfroren waren, sei die direkte Auswirkung dieses frevelhaften Rituals gewesen. Am Ende bleiben in der Gruppe all jene  übrig, die genügend Energie für formalistische Intrigen und Rituale der Rangordnung übrig hatten. Sie monopolisierten den Begriff des Heidentums und bemühen sich heute noch darum, den "Willen der Götter" aus den verschimmelten Manuskripten einer als Edda bezeichneten mittelalterlichen Schrift herauszudestillieren.

Ungefähr zwölf Jahre später versammeln sich Mitglieder einer heidnischen Organisation in einer Jugendherberge, die sich in einer alten Burg im Sauerland befindet. Ein paar Dutzend junger Leute zwischen zwanzig und Dreißig treffen sich dort, wobei einige von ihnen, in wallende Gewänder gehüllt, als germanische Priester (sogenannte "Goden") und einige als keltische Weise, genannt Druiden, auftreten, während andere sich als Anhänger der Religion der Hexen hervortun. Das Treffen ist der letzte Punkt einer Reihe von Streitereien und Hahnenkämpfen um die Macht in der Gruppe, wobei sich die Anhänger der "Germanen" und "Kelten" besonders hervortun. Während die Hexen und Hexer, zumal in ihrer Eigenschaft als "Freifliegende" eher einen spielerischen und undogmatischen Umgang mit ihrer Religion pflegen, zeichnen sich die Goden und Druiden durch einen besonders strengen Legitimationsanspruch aus, der ihnen einen dünkelhaften Machtanspruch verleiht. In diesem Fall kommt es zu einer Machtprobe, bei der sich die "Anhänger der Kulturen" der Germanen und Kelten durchsetzen. Hexen und Hexer verlassen großenteils die Gruppe - überdrüssig der ständigen Drohgebärden und Intrigenspiele.

Das Unheimliche an diesen Geschehnissen liegt nicht allein in ihnen selbst, sondern in der Kontinuität bestimmter Verhältnisse zwischen autoritärem Gehabe und mystischer Anarchie. In jener Burg im Sauerland traten junge Menschen von Anfang zwanzig als Wortführer uralter Kulturen auf, die letztendlich das gleiche Verhalten, gleichsam aus sich selbst hervorbringend, an den Tag legten, wie ihre Berliner Protagonisten ein Jahrzehnt zuvor.
Es wird nicht im Unklaren bleiben, wem wir bei diesen Religionskriegen en miniature eher unsere Sympathie und Antipathie entgegenbringen. Das Schlimme an diesen "Wiedergeburten" der Vergangenheit, ob wir jetzt die Goden oder die Hexen betrachten, ist zweierlei: Einmal kündet ihre Pathologie der Selbstbehauptung von einer unsicheren Identität. Es sind keine Wiedergeburten von irgendetwas, was es historisch wirklich einmal gab. Es sind vielmehr monströse Mißgeburten menschlicher Gedanken und innerer Bilder ins Stoffliche hinein. Materialisationen von Bildern, die Zeugnis ablegen von den Vorstellungen, die von der Vergangenheit entwickelt wurden.
Die Uneinigkeit der heidnischen Bewegung in sich selbst, ihre innere Unklarheit - das Gärungshafte ihres eigenen bisherigen Werdeganges spiegelt zugleich die Unfähigkeit wider, unserer Welt bei irgend einer ihrer zentralen zeitgenössischen Probleme wirkliche Hilfestellung zu gewähren.
Dafür garantiert das mangelnde Profil ihres intellektuellen Konzepts ebenso, wie die gesellschaftliche Wirkungslosigkeit ihres sozialen Erscheinungsbildes.
 
 

II.

Und andererseits führt die Konfrontation mit der alten heidnischen Hoffnung auf eine Durchsetzung der Natur gegen die Zivilisation (s.o.) zu folgender düsterer Bilanz: Statt sich der Natur anzunähern, haben die uns bekannten Heidentümer vor allem an der Herausarbeitung von mythologischen Scheinwelten gearbeitet, in denen man sich beliebig bewegen kann, was immer auch mit dieser Welt geschehen mag.
Ob ich nun an die Götter der alten Germanen denke oder die Große Göttin feministischer Kulte oder das Paar von Göttin und Gott - klar ist, daß es sich bei all dem um sekundäre Widerspiegelungen innerhalb der Psyche handelt, aber nicht um eine klare und offene Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt. Glück haben wir noch, wenn die Gläubigen dieser Bilderwelten zugestehen, daß es sich bei ihnen um Geschöpfe der Imagination handelt. Aber meistens erwartet man von uns, daß wir diesen eine imaginäre Überwelt bevölkernden Gestalten einen eigenständigen Realitätscharakter zubilligen.
Das Paradox des Heidentums ist es, einerseits eine Naturreligion sein zu wollen, und andererseits die wirkliche Natur durch sie symbolisierende Bilder mythologisch zu verschlüsseln und zu verschleiern, dem natürlichen Wahrnehmen und Erleben unerkennbar zu machen.

Damit ist - bei wirklich ehrlicher Überlegung -  ein Traum aller heidnischen Menschen der letzten dreihundert Jahre zerbrochen, die darauf ihre Hoffnung setzten, eine Alternative zur christlichen Lebensverneinung und Jenseitsgläubigkeit zu erreichen. Denn der Hauptvorwurf gegenüber dem Christentum galt bisher stets zu Recht, daß dieses seine Anhänger um die wirkliche Welt und das wirkliche Leben betrüge, indem es sie auf eine unbegreifliche, zukünftige und hinter den Dingen liegende Welt verweise.
Eine Hauptschuld für diese untergründige Deformierung des Neuheidentums gerade zum Zeitpunkt seiner Manifestation ist im Grunde die große Verbreitung des Okkultismus. Der grandiose Irrtum der Achtziger Jahre bestand u. a. darin, daß die Philosophie des New Age eine völlig neue Sichtweise der Dinge gewährleiste, die es noch nie zuvor gegeben habe. In Wirklichkeit war es die Wiederkehr der alten dualistischen Transzendentallehre, die das "Eigentliche" außerhalb des handgreiflich Sinnlichen und Wirklichen postulierte. Der Okkultismus in all seinen Varianten, ob in Form der dämonologischen Magie,  der mesmerischen Hypno-Hysterie oder dem Spiritismus - bis zu seinem jüngst geborenen Monstrum, dem Channeln, hat noch stets seine Aufgabe hervorragend erfüllt: In unbewußter Selbsttäuschung  scheinbare Alternativen zum Christentum zu eröffnen, in denen sich dieses untergründig wieder herbei schleichend und mit verstellter Stimme redend erneut stabilisierten konnte.
Das herausragende Charakteristikum der alten Naturreligionen bestand in der Faszination gegenüber den Phänomenen der den Menschen umgebenden Welt. Das Neuheidentum in seiner im Hexenkult zum Ausdruck gelangenden Version hingegen beginnt der christlichen Theologie Konkurrenz zu machen, indem es an einer abstrakten, metaphysischen Theologie zu feilen beginnt. So belehrt uns etwa Starhawk: "Die Betrachtung des Alls als Energiefeld, das von zwei starken Kräften polarisiert wird - dem Männlichen und dem Weiblichen, der Göttin und dem Gott, die in ihrer höchsten Seinsform Aspekte voneinander sind -, ist nahezu allen Überlieferungen der Hexenreligion gemeinsam." (Starhawk: Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin, Freiburg i.Br.1987, S.47). Und Vivianne Crowley, eine britische Interpretin des Wicca-Kults klärt den Suchenden folgerndermaßen über das Wesen der Kräfte auf: "Wie unsere Vorfahren gehen wir im Wicca davon aus, daß bestimmte natürliche Phänomene eine eigene Form des Bewußtseins besitzen, doch tendiert man heute eher dazu, die Geister, die in Bäumen, Höhlen oder Seen anzutreffen sind, nicht als Gottheiten, sondern als elementare Kräfte anzusehen,, die auch als Devas oder Naturgeister bekannt sind. ...Die Devas sind jene Wesen, die die Arbeit für die planetare Gottheit ausführen". (Vivianne Crowley: Wicca - Die Alte Religion im Neuen Zeitalter, Bad Ischl 1993, S. 159). Noch stärker löst sich Heide Göttner-Abendroth von der Konkretheit der Natur ab, obwohl sie sich doch als Feministin der Rolle der Abstraktion für die Entwertung des "Stofflichen" durch den patriarchalischen "Geist" bewußt sein sollte: "Die Mythologie matriarchaler Gesellschaften besteht aus Göttin-Mythensystemen, wobei die Urgöttin die Erde oder der Kosmos selber ist. ... Diese dreifaltige Göttin ist nichts geringeres als die Schöpferin, die Erhalterin, die Zerstörerin und Neuschöpferin der Welt, verkörpert im Bild der unaufhörlich kreativen weiblichen Kraft". (Heide Göttner-Abendroth: Für die Musen, Frankfurt a.M. 1992, S.28f.)
Und das traditionalistische Heidentum ? Auch die Goden und Druiden nehmen ganze mythologische Systeme en bloc in ihren Glaubenskanon auf, um sich dann händeringend zu fragen, welche Naturkraft denn nun ein Gott wie Odin, Teutates oder Hermes verkörpern mag. Dabei übersehen sie leider, daß manche Gottheiten nicht bestimmte Naturkräfte, sondern gesellschaftliche Funktionen verkörpern: Den Stammeshäuptling, den Krieger, den Schmied oder den Hirten. Nun, das Gefühl, unsere Religion mit einem Panoptikum untergegangener Berufe zu verbinden, erscheint mir nicht gerade besonders zukunftsfroh.

III.

Schauen wir uns jetzt noch eine Vision an, die in der Morgendämmerung der Neuzeit eine große Rolle gespielt hat: Die Sehnsucht der Menschen nach einer Freiheit der Selbstentfaltung, die das Zeitalter der Feudalherrschaft wie auch der kirchlichen Priesterhierarchien ein für alle mal beenden sollte. Was ist daraus geworden ?
Blicken wir in die heidnische Bewegung hinein, so begegnen wir allerorten kleinen Herrschern und Herrscherinnen, die in keiner Weise um Legitimationen verlegen sind: Stammespriester, Oberdruiden, Verwalter von Heiligtümern, Hohe Priester höchsten Grades, ehrwürdige Vertreter uralter Familientraditionen und jahrtausendealter Dauerüberlieferungen. Wie in der Kirche Roms treten sie auf als Stellvertreter höchster Wesen und spenden durch Einweihungen Sakramente, deren der Neophyt durch eigene Anstrengung nicht teilhaftig zu werden vermag. Während die priesterlichen Strukturen im Hexenkult auf die Traditionen freimaurerischer Logen und Orden zurückgehen, welche sich wiederum aus den Mysterien
der Leviten und der mittelalterlichen Ritterorden ableiten, führen traditionalistische Druiden und Goden historische Quellen zur Rechtfertigung ihrer Privilegien an. Doch auch sie vermögen nicht unsere geschichtliche Erfahrung zu verändern, welche uns darüber aufklärt, daß das Ständesystem der Indoeuropäer diese zum Mißbrauch des Ritter- und Königtums bis hin zum menschenschindenden mittelalterlichen Feudalismus veranlaßte.

IV.

Was aber sollten wir nun tun ? Dem Nihilismus oder Atheismus verfallen und vom Balkon springen ? Zunächst einmal könnten wir in der Welt, in der wir leben, zwischen sinnlich begreifbarer Wirklichkeit und unseren menschlichen subjektiven Bedürfnissen unterscheiden. Eine Landschaft mit einem Berg oder Fluß darin, ein Baum in einem Stadtpark oder der Mond am Himmel - das sind Wirklichkeiten, denen wir uns aussetzen können, um sie mit all unseren Sinnen zu erfassen. Es ist wahrscheinlich immens wichtig, diese für unsere Zivilisation unbedeutenden Wirklichkeitsformen neu wahrnehmen zu lernen, ihnen so gegenüber zu treten, daß nichts dazwischen zu treten vermag. Jedenfalls erscheint mir das wichtiger, als unsere innere Wahrnehmung zulasten der äußeren zu verstärken und diese dann mit allen möglichen Bildern aus allen Zeiten und Ländern zu verstopfen.
Übung Nr. 2: Die Kategorien des eigenen Seins, also unsere wichtigsten emotionalen Erlebens- und Bewußtseinsformen zu betrachten und ihnen dann vielleicht im Rahmen einer persönlichen Mythologie Ausdruck zu verleihen. Wer den Mut dazu hat, wird feststellen, daß die daraus hervorgehende Religion von unvergleichlicher Einzigartigkeit sein wird. Nur zu einem müßtest Du in der Lage sein, um diesen Weg zu gehen: Nicht darauf angewiesen zu sein, daß andere Dich in Deinem Tun bestärken.

         Matthias Wenger

Empfehlenswerte Literatur:

Abaris: Neue Naturreligion, Berlin 1994, in: der Hain - Zeitschrift für Heidentum, Naturreligion und thelemitische Philosophie
Diane Ackerman: Die schöne Macht der Sinne, München 1993
Epikur: Von der Überwindung der Furcht, übersetzt und eingelweitet von Olof Gigon München 1991
Ernst Fuhrmann: Was die Erde will, München 1986
Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, München 1984
Joel Kramer & Diana Alstad: Die Guru Papers - Masken der Macht, Frankfurt a.M. 1995
Laudse: Daudedsching, übersetzt und herausgegeben von Ernst Schwarz, Leipzig 1990
Harold Lincke: Instinktverlust und Symbolbildung, Berlin 1981
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995
Michel Onfray: Der sinnliche Philosoph, Frankfurt a.M. 1992
Die Vorsokratiker I und II, übersetzt u. herausgegeben von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1995
 

Zurück zur Übersicht "Heidentum - naturreligiöse Spiritualität - Hexenkult - was ist das eigentlich ?"