Organisierte Heiden - oder: Die Chance,
übersehen zu werden
von Matthias Wenger

Ich staunte nicht schlecht, als ich vor einigen Tagen am Zeitungskiosk auf meinem U-Bahnhof vorbeikam: Zwischen Stapeln von Lifestylemagazinen, Boulevardblättern und Tattoo-Motiv-Katalogen leuchteten mir entgegen: „Hexen, Druiden, weise Frauen". Ich staunte und wunderte mich. Es war eine Sondernummer der Zeitschrift connection („connection spezial"). Daß die Leute aus dem Osho(Bhagwan)-Umfeld sich schon immer für archaische religiöse Motive und Riten, wie auch deren Gottheiten interessiert hatten, war mir, irgendwie diffuse, bekannt.
Aber in dieser Ausgabe von „connection" wird eine sehr gezielte Querverbindung zwischen sexualtherapeutisch verstandenem Tantra, meditativen und tiefenpsychologischen Techniken einerseits und neuheidnischem Gedankengut andererseits hergestellt.
Auf dieser Reflektionsebene wird naturreligiöses Heidentum als etwas sehr Modernes, etwas sehr Notwendiges und Praktikables betrachtet. „Schamanische Wege zur Heilung" lautet deshalb auch der Titel. Denn bei Heilung geht es um menschliches Bedürfnis, nicht um nostalgische Theorien. Veranschaulicht wird der Umgang mit dem Bedürfnis durch Erlebnis- und Reiseberichte, also schamanistische Erfahrungen, die jemand selbst gemacht hat, werden berichtet, oder solche, die man in bestimmten Regionen und Kulturen beobachten kann. Aber auch das Selbstverständnis von Hexen auf dem Hintergrund von Feminismus und Wicca-Kult werden erörtert. Im Grunde kommt das gesamte Spektrum des modernen Neuheidentums zur Geltung.
Einzelne Namen kannte ich aus verflossenen Jahren: Wolfgang Bauer etwa, der schon Anfang der Achtziger (?) zusammen mit Sergius Golowin und Alt-Apo-Aktivist und Trikont-Gründer Herbert Röttgen ein „Lexikon der Symbole" herausbrachte, ein echtes Gesellenstück neuheidnischen Synkretismus. Wohlbekannt auch Clemens Zerling, der Gründer des langjährigen und legendären Berliner Verlags gleichen Namens, aus dessen Hand zahlreiche großartige Werke an interessierte Leser gelangten (z.B. der Katalog der großen Hamburger Hexenausstellung). Aber auch Luisa Francia, als Klassikerin der feministischen Spiritualität ist keine Unbekannte.
Andererseits fand ich eine Menge AutorInnen, die spannende Artikel zu Papier gebracht haben, aber mir persönlich bisher unbekannt blieben: Leila Dregger, Thomas Kaestle, Rita Crecelius, Alexandra Rosenbohm, Helmut Schmidmeier, Holger Jordan, Adelheid Mühlan, Inge Hasswani oder Ingeborg Szöllösi.
Im Grunde hätte ein solches Heft unter der Ägide von Pagan Federation, Steinkreis e.V. oder dem Rabenclan erscheinen können. Aber offensichtlich haben eine Menge Leute, die etwas anzubieten haben, überhaupt keinen Bock auf derartige Gruppen. Obwohl diese beanpruchen, das große Wort für das Neuheidentum zu führen.
Warum ist das so ?
So erfahren die Leute, die an meinem Bahnhofskiosk vorbeikommen, zwar viel Interessantes über Hexen, Schamanen und Druiden. Sie erhalten, neben zahlreichen kommerziellen Angeboten und der Empfehlung von Büchern aus dem rechtsextremen Zeitenwende-Verlag/Dresden und Elaboraten des Arun-Verlags nichts, aber auch rein gar nichts über jene Gruppen (siehe oben !), die angetreten sind, ihrer Mitwelt das Heidentum schmackhaft zu machen.
Möglicherweise ist das aber eben auch gar nicht nötig. Und zwar aus einem guten Grund: Es ergibt keinen Sinn, eine Interessengemeinschaft für etwas aufrechtzuerhalten, was ohnehin allgemeingültige Überzeugung eines Großteils der Bevölkerung darstellt.
Wie das ? Sind nicht die meisten Deutschen Konsumtrottel, Atheisten oder bestenfalls Gelegenheitskirchgänger ?
Aber keineswegs ! Eine ungeheure spirituelle Sensibilität spiegelt sie wider, jene kürzliche Umfrage,  die das Forsa-Institut  im Auftrag des P.M.-Magazins erstellte: Nach ihr würden fast die Hälfte aller Deutschen unter 45 Jahren ihre Wohnung gern mit einer Fee, einer Nixe, einem Kobold oder Zwerg teilen. 59 Prozent der Befragten halten die meisten Naturgeister für gutmütig und vertrauen ihnen. 27 Prozent aller Bundesbürger und 40 Prozent der unter 30-Jährigen Erwachsenen sind der Überzeugung, daß Naturgeister ihnen zur Seite stehen und sie unterstützen.
Damit dürfte klar sein: Die heidnische Naturreligion ist, von vielen Religionshistorikern offenbar völlig unbemerkt, die führende Religion des deutschen Volkes geworden.
Diese Feststellung verschärft sich noch, wenn wir (was leider in der vorliegenden Untersuchung außer acht gelassen wurde), die Bereitschaft der über 65-Jährigen berücksichtigen, ein Stück Land gemeinsam mit (Garten-)Zwergen zu bewohnen.
Das ganze läuft also quer durch alle Altersstufen. Und solchen erlauchten Organisationen wie dem Rabenclan, der Pagan Federation oder dem Steinkreis würde ich empfehlen, auf ihren nächsten Mitgliederversammlungen ihre Auflösung zu beschließen.
Sie haben schlicht keine Funktion mehr, da mittlerweile fast alle Menschen zwischen Oder und Rhein ihre Überzeugungen teilen !
 


06.12.2001