Zur Chronologie der „Grauen Vorzeit“ – Rezension eines Buches von Heribert Illig

von Matthias Wenger


Die Lektüre des vorliegenden Buches zu empfehlen, hat für mich zwei ganz naheliegende Gründe: Obwohl es bereits vor über zwanzig Jahren erschienen ist, scheint es an zwei wesentlichen Interessengruppen zum Thema bisher vorbeigegangen zu sein.

Weder in Arbeiten zum konventionellen Verständnis der Vorgeschichte, noch in interessierten Kreisen von Laienforschern ist mir lligs Arbeit bisher begegnet, geschweige denn, daß man daraus die erforderlichen Schlußfolgerungen gezogen habe.

Heribert lllig verfolgt die Neujustierung der Datierungen megalithischer Relikte mit ganz einfachen Mitteln, die auch jedem archäologischen Laien zugänglich sind:

Als erstes beschreibt er Fundsituationen und Fundobjekte, die nach offizieller Einordnung viel späteren Epochen wie z.B. der Bronze- oder Eisenzeit entstammen, aber in enger Beziehung zu megalitischen Örtlichkeiten und Bauwerken stehen.

Facharchäologen versuchen das mit simplen Termini wie „Nachbestattung“ zu erklären.Treten aber beispielsweise wie im Falle von Glozel Schriftzeugnisse zusammen mit neolithischen und sogar paläolitischen Objekten auf, bleibt nur noch die Flucht in den Fälschungsvorwurf. Denn an der Schriftlosigkeit des Megalithikums darf nicht gerüttelt werden.

Aber letztendlich offenbart die Gleichzeitigkeit von Funden unterschiedlichster „Epochen“ die Absurdität einer rein materialbezogenen chronologischen Schichtenfolge.

Illig befaßt sich ferner mit dem typologisch-stilistischen Vergleich von Bauformen, also von architektonischen Strukturen. Da wird schnell klar, daß megalithische Baulichkeiten in bestimmten Details überraschende Ähnlichkeiten aufweisen mit Objekten aus historisch eindeutiger datierbaren Objekten. Schöne Beispiele sind „Zyklopenmauern“ und Gewölbestrukturen.

Das typisch megalithische Mauerwerk besteht aus sehr großen, meist nur oberflächlich und grob bearbeiteten Steinen. Mit der Zyklopenmauer von Tarragona oder dem etrurischen Sarazenentor von Segni (6. Jhdt. v. Chr.) zeigt Illig, daß diese Art von Architektur auch in sehr „jungen“ historischen Epochen präsent ist.

Ein anderes Beispiel ist die Ornamentik des Spiralmotivs: Die Spiralen von Tarxien auf Malta werden in den Beginn des 3.Jahrtausends v. Chr. versetzt. Ähnliche Spiralmotive auf ein einer mykenischen Stele datiert man in 1650 v. Chr. Damit ist das möglicherweise realistisch eingeschätzte Alter des Objekts verdoppelt worden !

Das Resultat von Illigs Recherchen besteht darin, daß eine mehrtausendjährige Rückdatierung megalithischer Bauwerke reduziert wird auf den Zeitraum 1. Jahrtausend vor Christus. Dabei wird auch der generalisierende Begriff „Megalithikum“ einer fundamentalen Kritik unterzogen – ganz zu Recht, dienen doch solche Begriffe in der Geschichtsschreibung oft dazu, elementare Unterschiede und damit Differenzierungsmöglichkeiten zu vertuschen.

Auch die Frage der Verläßlichkeit der naturwissenschaftlich begründeten Datierungsverfahren wie der C-14-Methode unterwirft Illig einer kritischen Bestandsaufnahme. Ihre Relevanz für die Datierung alteuropäischer Funde erweist sich letztendlich als ebenso problematisch, wie die Heranziehung außereuropäischer Datierungsgerüste ägyptischer und sumerischer Herkunft. Eine Folge der konsequenten Verwertung der C-14-Methode hatte nämlich u.a. darin bestanden, die Chronologie immer weiter auszudehnen und das Alter der Funde ständig zu vergrößern. Dadurch entstehen neue Probleme, die es vorher nicht gab: Bestimmte lokale Funde stehen als chronologisches Unikat im Raum, da man sie nicht mit gleichgearteten Funden benachbarter Regionen vergleichen darf.

Eine wichtige Schlußfolgerung der in diesem Werk vorgeschlagenen Datierungsrevision wird von Illig angerissen, aber nicht erschöpfend diskutiert: Wenn maßgebliche megalithische Monumente im ersten Jahrtausend v. Chr. zu verorten sind, rücken sie in erhebliche Nähe zu alteuropäischen Kulturen, deren schriftliche Überlieferungen wir z.T. kennen, oder auf die aus Schriftkulturen verwiesen wird: Germanen und Kelten beispielsweise. Die Nähe der keltischen Stammeskulturen zu megalithischen Überresten wie Stonehenge wird von Illig ausgiebig erörtert.

Die Beziehung germanischer Stammeskulturen zu megalithischen Relikten wurde bereits in der NS-Zeit thematisiert, als systemfromme Archäologen von „germanischen Hünengräbern“ sprachen. Dieser politische Mißbrauch der Archäologie ist aber kein Grund, anhand von Illigs Thesen jetzt nicht einmal eine ernsthafte Diskussion über Schnittstellen zwischen historischen Schriftkulturen Westeuropas und Skandinaviens und der europäischen Vorzeit zu führen.

Schon oft hat die Astroarchäologie, deren Forschungsergebnisse Illig fast gänzlich übergeht, auf Zusammenhänge zwischen der astralen Mythologie im mittelalterlichen bis neuzeitlichen Volksbrauchtum einerseits und Beobachtungsstrukturen megalithischer Monumente andererseits hingewiesen. Auf diese Weise käme man nämlich in beiden Richtungen zu ganz neuen Ergebnissen: In der Bewertung prähistorischer Anlagen, aber beispielsweise auch in der Analyse von Elementen mittelalterlicher Sakralarchitektur.

Konkret würde das heißen, daß bei einer kurzen chronologischen Distanz die Frage erlaubt ist, ob volkstümliche ländliche Bräuche der Sonnenfeste Wintersonnenwende und Sommersonnenwende Einblicke in das Geschehen bieten, das sich in Kreisgrabenanlagen und Steinkreisen mit astronomischer Orientierung abgespielt hat.

Andererseits würden Beziehungen zwischen astronomischen Visurlinien letzterer Anlagen und denen mittelalterlicher Kirchen neue Bewertungen der Kirchengeschichte ermöglichen.

Die immer vorhandene Tendenz von Archäologen, prähistorische Strukturen mithilfe zeitgenössischer folkloristischer und ethnologischer Erklärungsmuster zu bewerten, ergibt nur unter einer Bedingung Sinn: Wenn die zeitliche Distanz zwischen beiden chronologischen Abschnitten möglichst kurz gehalten werden kann.

Nur an einer Stelle empfand ich Illigs Ausführungen etwas deplaziert: Das war im Kapitel „Der „Zweck“ der Steinsetzungen“. Hier präsentiert der Autor verschiedene Deutungen, die eine Art katastrophistisches Kuriositätenkabinett abgeben. Das tut der sachlich-präzisen und nüchternen Erkenntnisarbeit der ersten hundert Seiten deutlich Abbruch.

Natürlich ist die Diskussion der Frage, ob ein Menhir als Nachbau eines vom Himmel gefallenen Donnerkeils zu werten ist, legitim. Das gleiche gilt für die Deutung von Steinreihen als Anklang an die Himmelswahrnehmung der Bewegungen der Venusbahn. Auch die elektrostatische „Entspannung“ der Atmossphäre durch himmelstrebende Bauwerke oder die Phantasie, daß man mit ihnen den einstürzenden Himmel stabilisieren könne, sind erwägenswerte Überlegungen.

Besser wäre es allerdings gewesen, die von der konventionellen Archäologie vorgebrachten Deutungen ebenso kritisch und gründlich zu hinterfragen, wie deren chronologisches Gerüst.

Heribert Illig: Die veraltete Vorzeit – eine neue Chronologie der Prähistorie, Frankfurt a.M.1988


31.Mai 2010