von Frater Ginnungagap Atman
Der Wunsch der von der monotheistischen
Anmaßung Gebeutelten nach einer religiösen Alternative hat in
den letzten 100 Jahren der westlichen Kultur schon viele Gestaltungsversuche
angenommen.
Während es die Flüchtlinge
der zivilisatorischen Hektik in asiatische Mysterienreligionen trieb, wo
man mit Yoga und Buddhismus einer Kultur der Verneinung zustrebte, gab
es andererseits auch die Variante einer diesseits betonten Spiritualität,
deren Spannbreite von der pantheistischen Philosophie Hochgeistiger bis
hin zu einer Neuauflage eines rohen polytheistischen Götterkultes
reichte.
Der erneut aufbrandende Schlachtruf
"Zurück zur Natur", in den 20er Jahren bereits einmal kräftig
erschollen, regte sich nun auch in den 70er Jahren, als durch die Impulse
der ökologischen Bewegung eine neue Form von Naturreligiosität
entstand.
Es ist ein neues Heidentum,
daß sich in Wicca und feministischem Hexenkult, keltischen, germanischen
und antikisierenden Kulten aller Art bis hin zu einer undogmatischen Naturfrömmigkeit
Bahn in den Herzen des westlichen Menschen bricht - ist es aber noch unkorrumpiert,
noch ein wirklicher Aufbruch in neue Welten ?
Oder verbirgt sich in dieser
ganzen neuheidnischen Avantgarde nur alter Wein in neuen Schläuchen,
der uns längst unheilbar sauer geworden ist ?
Ich möchte zunächst
einmal den Begriff "Natur" einer kritischen Bestandsaufnahme unterwerfen,
bevor wir zu anderem forteilen. Stellen wir die Frage nach seinem Inhalt
in den heidnischen Ideologien der Gegenwart, so tritt uns ein vom Menschlichen
und seiner gegenwärtigen urbanen Lebensrealität Getrenntes in
den Blick - die Natur als Gegensatz zu allem, was ein durchschnittlicher
Gegenwartsmensch lebt oder erlebt.
Auch der temporäre Aufenthalt
in einer schönen Landschaft oder im Stadtpark kann als touristische
oder anekdotische Zugabe zur eigentlichen Realität unserer Existenz
gelten. Kräfte der Natur bilden aber nicht mehr lebensentscheidende
existenzielle Notwendigkeiten des heutigen Menschen wie in der Stammesgesellschaft.
Zwar ist das Leben der Erde
auch heute noch unsere Lebensgrundlage. Aber sie kann als solche nur mittels
einer pädagogischen Zwangsmaßnahme vergegenwärtigt werden,
nicht wie in der ländlichen Stammesgesellschaft in ihrer damaligen
Unmittelbarkeit.
Man kann diesen Zustand zu
recht beklagen. Aber es spricht nichts dafür, daß sich die Erde
in den nächsten 100 Jahren nicht zu einer Vernetzung stinkender urbaner
Zentren formiert, der die "freie Natur" immer stärker zum Opfer fallen
wird. Menschen, die es dennoch bestreiten, legen sich in der Regel keinerlei
Rechenschaft über die vorhandenen ökonomischen Zwänge ab,
welche in diese Richtung führen.
Meistens verstehen sie davon
auch recht wenig.
Den Einsichtigen wird also
zuguterletzt nichts anderes übrigbleiben, als "Natur" dort aufzusuchen,
wo sie sich als in ihrem letztendlichen Zufluchtsort verbirgt:
In den die urbanen Zentren erfüllenden Menschen selbst. Der Mensch
(vor allem der Männliche) hat sich zielgerichtet mit etwas umgeben,
was die Urstoffe der Natur bis hin zu ihrer Unerkennbarkeit transformierte.
Aber er selbst ist als lebendiges
Wesen noch bis zu einem gewissen Maße Ausdruck einer jahrmillionen
alten Entwicklung - als aufrechtgehendes Tier in ständigem Zwiespalt
mit einer von ihm selbst erzeugten Gegenwelt, der gegenüber er seine
Natur zu bewahren versucht.
Und das gilt für den
Menschen als Einzelwesen im Kampf mit sich selbst wie auch für den
Menschen im Kontakt mit seinen "Hordengenossen".
So ist es zwar möglich,
in einer modernen Großstadt zu leben, ohne Ackerfurchen und wogende
Kornfelder, ohne rauschende Wälder und plätschernde Quellen.
Doch an der Realität meines eigenen Körpers und meiner Seele,
an den Beziehungsgeflechten meiner selbst mit anderen Zweibeinern führt
in letzter Konsequenz gar nichts vorbei. Es ist die letzte Bastion der
sinnlichen Vergegenwärtigung von Leben.
Wenn es auch dies nicht mehr
ist, dann ist es wenigstens das Leiden daran - oder ich bin eben infolge
meiner zahllosen Verdrängungen seelisch scheintot - bei lebendigem
Leibe mumifiziert.
Zur Antwort auf die Frage nach
einer Spiritualität der Wirklichkeit gehört also der Fingerzeig
auf die Erlebensmöglichkeiten des Menschen in Singular und Plural
- und zwar den Erlebensmöglichkeiten sich selbst und anderen gegenüber
!
Natürlich soll niemand
verwehrt bleiben, höhere Wesenheiten als Göttinnen und Götter
oder die "reine" Natur in ihren Kräften zu beschwören. Frage
Dich nur, ob Dich Rituale und Traumreisen in die Wirklichkeit Deines Lebens
führen (Natürlich können auch sie es !) - oder hinaus und
hinauf in eine Überwelt idealisierter Wunschbilder, die zu übermächtig
sind, um je Realität werden zu können.
Die Hoffnung der Siebziger
und Achtiger Jahre nach einer schrittweisen Rückeroberung der Zivilisation
durch die Natur hat sich als schöne Illusion entpuppt. Das fortwährende
Weiterspinnen solcher Hoffnungen führt dazu, daß das Neu-Heidentum
sich partiell zu einer Erlösungsreligion dualistischer Couleur
entwickelt.
Die Romantiker leben in der
Welt ihrer Vorstellung, während sich die Welt um sie herum unermüdlich
zu einem noch mehr stinkenden Morast der Künstlichkeit deformiert
- und so werden sie in ihrer tatsächlichen Sinnlichkeit langsam aber
sicher blind.
Das gerät zu dem Paradox,
daß aus einer eigentlich lebensbejahenden Religion der Glaube an
eine mögliche, andere Form von Realität wird, die die tatsächliche
Realität verneint. Ich gebe dieser Entwicklung in der neuheidnischen
Spiritualität den Namen: Neopaganer Gnostizismus. Ein artifizieller
Begriff, der der Widernatürlichkeit seiner Einstellung konsequent
entspricht.
Die Spaltung der Wirklichkeit
in ein "Hier" der urbanen Realität und ein "Dort" der "freien Natur"
hat aber gegenüber dieser räumlichen Qualität noch eine
andere Variante entwickelt - nämlich in der Zeitdimension.
Ich meine damit die Trennung
einer als leidvoll empfundenen Gegenwart von einer golden schimmernden
Vergangenheit.
Hat sich der Begriff der
"Natur" zu einem ideologischen Götzenbild des Neuheidentums entwickelt,
das einer dringenden Korrektur und Neu-Definition bedarf, so gilt das erst
recht für die "Traditionen".
Natürlich gibt es eine
Fülle von Begründungen, warum jemand seine Religiosität
als wahlweise keltisch, germanisch, griechisch-antik oder slawisch definiert.
Das Fortleben des Geistes in der Sprache gegenwärtiger westlicher
Menschen ist vielleicht nicht einmal das schlechteste Argument der Traditionalisten.
Schlimmer sieht es schon aus mit der Kontinuität des "Blutes". Es
dürfte in der Gegenwart Europas kaum menschliche Individuen geben,
in deren Adern nicht germanisches, römisches, keltisches und slawisches
Blut in wilder bunter Mischung einhertobt. Wer das bestreitet, legt sich
keine Rechenschaft ab von der Bewegung menschlicher Stämme auf dem
Antlitz der Erde in den letzten 3000 Jahren Europas und der synthetisierenden
Wirkung der großen Städte seit dem Spätmittelalter. Mit
dem Mythos der Geschlossenheit der großen Traditionen ist die Mär
einer jahrtausendelangen Seßhaftigkeit unlösbar verbunden -
eine Idee, die schon durch die oberflächliche Lektüre eines historischen
Atlas leicht widerlegbar ist.
Und das spezifische Erlebnis
der Landschaft und ihrer Natur durch die dort gesiedelten Stämme ?
Nehmen wir doch einmal eine
Landschaft wie die Bretagne, die nacheinander von Megalithikern, Römern,
Germanen und schließlich Kelten besiedelt war - in welcher tatsächlichen
Wechselbeziehung standen die hier genannten religiösen Traditionen
zur Wahrnehmung der umgebenden Natur ?
Es sind reine Spekulationen,
die es uns erlaubten, Gestalten der Mythologie auf reale Kräfte der
dortigen Naturwirklichkeit zurückzuführen. Es ist aber ebenso
wenig zu leugnen, daß diese in ein und der gleichen Landschaft lebenden
Menschen ganz unterschiedliche Gottheiten und unterschiedliche Werte vertraten.
Die Wahrheit ist, daß
die Traditionalisten den Einfluß ökonomischer Zwänge in
ihrem Einfluß auf die Bildung mythologischer Vorstellungen schwer
unterschätzt haben.
Wieviele Heiden gibt es in
diesen Strömungen, die ihre Existenz mit Viehzucht, Landwirtschaft,
Jagd bestreiten.
Wieviele Kleinkönige,
Bauern, Barden, Krieger oder Fischer treffen wir auf den Vortragsabenden
oder in den Schwitzhütten neuheidnischer Konvente ?
Es gibt leider nur wenige
von den alten Germanen oder Kelten Begeisterte, die aufrichtig gestehen
würden, daß es die kindliche Freude an den Inhalten eines alten
Sagenbuches war, die sie dazu brachte, sich mit dem Etikett "Gode" oder
"Druide" zu schmücken.
Warum und wovor diese Scheu
? Als Anregung und Stärkung für das Handeln in der Gegenwart
finde ich Texte, Kunstwerke und Gebräuche alter Kulturen von unschätzbarem
Wert. Aber nicht als Reich der Versenkung unserer Aufmerksamkeit
vor der Kultur der Gegenwart und schon gar nicht als nekromantisch-nekrophile
Beschwörung von Vergangenem, daß dergestalt in einer gewesenen
Form wieder aufleben soll.
Eine weitere Zutat in jenem
Cocktail namens "Neuheidentum" sind jene Versatzstücke praktischer
Betätigungen, die als Unterhaltung, Lebenshilfe und Taschenspielerei
verschiedenster Art bewertet werden können: Okkulte Praktiken meine
ich damit weniger, als ihre Interpretation, ihre Deutung im persönlichen
Kontext.
Orakeltechniken, Imaginationsübungen
und bewußtseinsverändernde Techniken sind an sich nicht von
Übel - aber sie werden zu Schleichwegen erlösungsreligiöser
Narkose, wenn man sie, wie im landläufigen Okkultismus üblich,
mit Offenbarungscharakter begabt. Überall dort, wo hinter einer Vision,
einer Tarotkarte oder einer gelenkten Meditation der Zeigefinger des Großen
Bruders hervorscheint, den Menschen zur Ordnung winkend, ist die Kluft
zwischen dem übersinnlichen Erleben und dem eigentlichen Sinn Deiner
menschlichen Existenz aufgetan.
Damit ist überhaupt
nichts gegen Praktiken gesagt, die unser Bewußtsein überr die
herkömmlichen Kategorien des alltäglichen Erlebens hinausführen.
Man sollte sich bei dieser Betätigung nur stets die Frage offenhalten,
ob und was das Erlebte mit einem selber zu tun hat oder inwiefern darin
der Macht- und Herrschaftswille von Instanzen zum Ausdruck kommt, die uns
zu kontrollieren versuchen.
Bislang hat sich der Okkultismus,
sofern er nicht nur einfach eine neue Art von Konsumfetischismus darstellt,
wenig zur Erlangung menschlicher Autonomie beigetragen. Vielmehr hat er
gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf einer imaginativen Ebene
oftmals noch erneut reproduziert, wie ein sich ins Unendliche fortsetzendes
Spiegelbild.
Soweit die Diagnose einer
Vorstellungswelt, die eben leider nicht von der Bejahung der Wirklichkeit
lebt, sondern von ihrer Verneinung und Ersetzung durch eine "bessere" Welt.
Und ihre Therapie ? Wie dürfen
wir uns das Heidentum als eine Gestaltwerdung von Möglichem, Tatsächlichem,
Lebendig-Wirklichem vorstellen ?
Ich wage es eine Antwort
zu geben, auch auf die Gefahr hin, daß man mich der Primitivität,
der Anpassung an den Zeitgeist oder des Verrates an den "heiligen" ,"ewigen"
Werten unserer Ahnen bezichtigt.
Führen wir unsere Spiritualität
in ganzer Konsequenz auf das zurück, was wir ganz unmittelbar als
unser Eigenes und Wirkliches erleben dürfen.