Neunerlei Kräuter - Was hat es damit auf sich ?
Ein Mysterium aus den alten Religionen Europas



Am 15.8. ist seit alters her Mariä Himmelfahrt: Mit diesem Fest versuchte die Kirche ein Fest für sich zu monopolisieren, das früher wahrscheinlich Kräuterfrauentag oder Tag der Kräuterweihe hieß.

Kräuterbüschel wurden in die Kirche gebracht, um nach einem Welheritual eine besondere segenspendende z.B. Krankheiten heilende Kraft zu entfalten.

Aber bei diesen Kräuterbüscheln gab es eine Besonderheit: Sie sollten nämlich stets neunerlei Kräuter enthalten, wobei die Bestandteile der einzelnen Kräuter variieren. Die Königskerze, auch Muttergotteskerze genannt, gehörte aber oft zu einem solchen Arrangement.

Die Zahl Neun taucht öfter im "Aberglauben" auf als Sinnbild für etwas Umfassendes, Ganzheitliches oder Vollständiges. Ähnlich wie z.B. die Zahl 7 in der Hermetik oder die 12 in der mediterranen Astrologie.

Und zugleich bezog sich die Zahl 9 auf etwas Weibliches. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen ?

Wenn wir den Strukturen archaischer Mythen nachforschen, fällt auf, daß sehr oft nicht von einzelnen Gottheiten die Rede ist, sondern von Gruppen von Gottheiten. Es werden Gottheiten gleichsam im Sinne einer Gattung, einer Gemeinschaft zusammengehöriger Wesen erwähnt.

Und hier stoßen wir auch auf eine Gruppe von neun Göttinnen. Bereits in der antiken griechischen Mythologie ist die Rede von den neun Musen, die neun verschiedene Künste verkörpern. In den orphischen Hymnen aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. werden die Musen als „Nährerinnen der Seele" bezeichnet.
 

In der christlichen Magie ist die Rede von neun verschiedenen Klassen von Engeln !

Und in der Edda, einem altisländischen Text, der um das Jahr 1000 überliefert wurde, berichtet ein Lied von einem heiligen Berg, auf dem neun Göttinnen sitzen. Im sogenannten Fjölswinnlied heißt es dort:

Lyfjaberg heißt er, der lange Trost
Versehrten und Siechen bringt:
Gesund wird die Frau,
war sie gefährlich auch erkrankt, die ihn erklimmt"
Und nach einer Aufzählung der neun Göttinnen heißt es weiter:
„...... helfen sie allen,

die ihnen Opfer bringen,
wenn es dessen bedarf ?

Allen helfen sie,
die ihnen Opfer bringen,
am urheilgen Opferplatz;
nicht wird so mächtig die Not,
für die Menschensöhne:
sie befrein sie aus der Gefahr"

Rudolf Simek übersetzt Lyfjaberg in seinem Lexikon der germanischen Mythologie (Stuttgart 1984) mit "Heil(kräuter)berg".

Nun ist natürlich der Berg auch zugleich ein Ganzheitssinnbild im kosmischen Sinne - es ist der Weltberg, in dem die Verbindung von Erde und Himmel zum Ausdruck kommt. Folgerichtig ist in der Edda auch die Rede von neun Welten. Und auf einer alten Darstellung von Gafurius von 1496 aus der Zeit der Renaissance werden die Musen in Beziehung gesetzt zu den neun kosmischen Sphären:


Aus: Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a.M. 1987

Das Mysterium der neunerlei Kräuter am "Kräuterfrauentag" läßt sich also metasprachlich folgendermaßen interpretieren: Helle das, was verletzt ist, indem Du Dich der Fülle pflanzlicher Kräfte in vollständigem Maße bedienst. Dadurch wird Dir die behütende und harmonische Macht des Weiblichen zuteil, aus diesem wächst alles Heilende.

Versuchen wir auch heute, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen

Matthias Wenger