Goslarer Dom


"Atemgeburt" - auf den Spuren eines ikonographischen Rätsels


von Matthias Wenger



Magedeburger Dom



Neuwerkkirche Goslar
 

Der Begriff "Atemgeburt" ist natürlich eine Arbeitshypothese - denn im Grunde ist überhaupt nicht klar und eindeutig, was auf all diesen Bildern eigentlich dargestellt wird.

 
Neuwerkkirche Goslar




Neuwerkkirche Goslar





Goslarer Dom



Paderborner Dom (Paradies)




Bibel von St. Amand




Magdeburger Dom



Magdeburger Dom



Magdeburger Dom



Magdeburger Dom



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Kreuzgang)




Abtei Gernrode (Kreuzgang)



Abtei Gernrode (Kreuzgang)




Goslar (Jakobikirche)



Schedelsche Weltchronik



Dom von Faro (Algarve, Portugal)

Klar ist, daß es Köpfe und ganz überwiegend nur Köpfe sind, die hier insbesondere auf Kapitellen der romanischen und gotischen Epoche dargestellt wird. Diese Köpfe haben ihren Mund geöffnet, dem etwas zu entströmen scheint.

Hier beginnt schon der erste Dissens in der Interpretation - denn woran kann man schon erkennen, ob hier etwas aus dem Mund herausfließt, ob er etwas aus sich heraus entläßt, oder ob er etwas in sich hineinsaugt, etwas in sich aufnimmt, oder verschlingt ?
Auch die Natur des Hinein- oder Hinausströmenden ist nicht ganz klar - ist es etwas Fließend-Flüssiges, oder etwas Luftiges oder gar Gasförmiges ?
Manche Beispiele legen eher nahe, daß es sich um eine feste Substanz handelt - um eine Art Schlauch oder um ein Band pflanzlicher Beschaffenheit.
Obwohl es bei Betrachtung all dieser Motive einleuchtet, daß sie alle etwas verbindet, daß in all diesen Kunstwerken etwas ähnliches, Zusammengehöriges dargestellt wird - trotz allem ist der objektive Sachverhalt dieses mit dem Kopf und seinem Munde verbundenen Vorgangs nicht eindeutig und  zweifelsfrei beschreibbar.
Sich dem langsam anzunähern hieße vielleicht zunächst, weitere allgemeine formale Ähnlichkeiten zu beschreiben.
Da fällt des weiteren ins Auge, daß neben der Aufmerksamkeit auf Kopf und Mund das Wesen des "Strömenden" einer Zweiteilung unterliegt.
Diese Zweiteilung hat etwas Ornamental-Geometrisches an sich. Allerdings nicht in der Weise, daß dieses sich der lebendigen Form bemächtigt, sie in eine mathematische Struktur zwängt. Trotz eines zwiefach Strömenden als elementarer arithmetischer Regel bleibt die physiologisch-organische Spontaneität des Vorgangs erhalten.   
Der Versuch, das Wesen der Träger der Köpfe als Grundlage ihrer Deutung zu erfassen, stößt gleichfalls auf gewisse Grenzen...
Es sind dämonische, ja geradezu tierhafte Wesen - aber auch menschliche Köpfe erblicken wir, ja sogar Gottvater oder den Stammvater Abraham selbst.
Die Interpretation der Darstellung als dämonischer Abseitigkeit wird also ebenso in die Irre gehen, wie eine dezidiert biblische Deutung, die auf den durch Odem schaffenden Gott der Genesis zurückgriffe.
 Auch handelt es sich um kein Bildgut oder Motiv einer zeitlich engumgrenzten Epoche - angefangen bei romanischen Buchmalereien, Taufsteinen und Kapitellen bis hin zu spätgotischen Steinmetzarbeiten reicht die zeitumgreifende  Dimension dieser ikonographischen Tradition. In der konventionnellen Historiographie bewegen wir uns demnach innerhalb eines Zeitraums von ca. 500 Jahren.
Wird hier versucht, eine Idee über die Beziehung des höheren Organismus, seines Innenlebens mit der ihn umgebenden Welt darzustellen ?
Oder handelt es sich statt eines ideographischen Symbolkomplexes um etwas elementar Wahrnehmbares, etwas im übersinnlichen Sinne Wirkliches, das sich unserer heutigen Wahrnehmungsfähigkeit entzieht ?
Eine weitere ikonographische Verallgemeinerung dürfte noch zutreffen: Das von den Köpfen und ihren Mündern Hervorgebrachte ist etwas, was vom Volumen her weit über die dingliche Präsenz des Hauptes hinausgeht. Es verweist auf eine räumliche, raumfüllende Dimension, es entzieht sich in seiner Wesensart selbst dem dinglichen Charakter der Häupter, es entzieht sich der Simplifikation des Objektchrakters.
Es eröffnet Assoziationen an etwas "Verströmendes".

Was sagt die Kunstgeschichte dazu ?

Über ein entsprechendes Bildmotiv an einer Platte des Heiligen Grabes im Kloster Gernrode / Harz (1100 / 1130) heißt es etwa:
"Der äußere schmale Fries wird von einem Rankenband gebildet, das von Masken und Tiermäulern ausgespien wird" (Uwe Geese: Romanische Skulptur, in: Romanik, Hrsg. Rolf Tomann, Königswinter 2004, S.312).
Das Haupt auf dem Titel der Bibel aus St. Amand wird von Franz ziemlich akribisch beschrieben: "Diese (Ranken) wachsen aus einem geflügelten Tierwesen heraus, das sich in der Form des Anfangsbuchstabens "A" über das Blatt ringelt. Seine Hörner und seine Schwänze enden in Schlangenköpfen denen die Blattranke entspringt" (H. Gerhard Franz: Spätromanik und Frühgotik, Baden-Baden 1969, S. 170)
Auf die aber eigentlich spannende Differenz zwischen dem Kopf und seinem Mund einerseits und den aus dem Munde hervorgehenden Vogel- und Schlangenkörpern geht Franz gar nicht ein ! Statt dessen heißt es an gleicher Stelle spekulativerweise: "Die flächenfüllende Verwendung von Ranken ist vielleicht durch islamische Elfenbeinarbeiten inspiriert".

Der Kunsthistoriker Hans-Günther Griep bewegt sich da schon auf einer etwas feineren Deutungsebene, wenn er die an der Apsis der Goslarer Neuwerkkirche  außen befindlichen Häupter deutet als "das Freie und Gute", "Starke und Mächtige", "Christus, Gott oder die Kirche". Diese Instanz erlöse die Menschheit von dem Übel, indem sie das Böse verschlinge oder verzehre - und zwar mit einer Totalität, die dessen Wiederkehr ausschließt: "Die Drachen, Sinnbilder des Bösen werden also von dem Inbegriff des Mächtigen und Guten vernichtet".. (Hans-Günther Griep: Neuwerk, Goslar 1986, Der Kirchenbau als Symbol und Urkunde, S. 19f.)
-> JPG Neuwerkkirche Goslar / Neuwerkkirche Goslar 1

Das das gleiche Motiv in sehr unterschiedlichen Variationen am gleichen Ort auftaucht, nicht nur in der hier von Griep gezeigten Form, wird im Text nicht erwähnt. Zum Beispiel in folgenden Variationen taucht das Motiv hier an der Außenseite der Apsis auch auf: -> Neuwerkkirche Goslar 3, Neuwerkkirche Goslar 6, Neuwerkkirche Goslar 7
Wichtig aber ist Grieps nicht durch Literaturhinweise belegte Behauptung: "...ein religiöses Motiv...welches in der Forschung nicht mehr umstritten ist. Es...ist bisher nur als schmückendes Ornament angesehen worden".
Klaus Kowalski, der in zwei mächtigen Bänden materialreich die Geschichte des Reliefs als Gattungsform der bildenden Kunst referiert, macht es sich da leichter: Ein entsprechendes Motiv am Portal des ehemaligen Goslarer Doms (um1150) bezeichnet er lapidar als "Dämonenkopf und Drachen". (Klaus Kowalski, Plastische Bilder, Zur Geschichte der Reliefgestaltung, Band I, Bielefeld 1996, S. 184).
Auch er verschweigt die an der gegenüberliegenden Säule des Goslarer Rest-Doms liegende motivische Variation .
Sich vielleicht die Frage zu stellen, welch tieferer Bedeutungsgehalt darin liegen könnte, daß das eine Haupt geschlossene, das andere offene Augen zeigt, liegt wohl unter der Würde des Wissenschaftlers.

Vielleicht geht es im ersteren Fall um das Einatmen, im letzteren Fall um das Ausstoßen des Atems ?  

Weitere Deutungsversuche

Es stellt sich die Frage nach der Ausschließlichkeit der Kopfdarstellung. Warum wird nicht der ganze Körper dargestellt, sondern nur das Haupt ?
Es besteht die Möglichkeit eines Kopfkultes, der sich wiederum mit einem postmortalen Schädelkult im Sinne des ahnenkultischen Reliquienkultes beantworten lässt, aber auch mit einer Anspielung auf kultische Menschenopfer: Der rituell abgetrennte Kopf, wie ihn ein Motiv der frühneuzeitlichen Malerei vorgeblich als Ermordung Johannes des Täufers referiert, könnte eine Anspielung auf die spätmittelalterliche Fortsetzung des keltischen Kopfkultes sein.  
Die Präsenz derartiger Skulptierungen am Baukörper deutet sich noch in einer speziellen Bauform an, den Knochenkapellen ->Faro Dom Algarve 1 + 2
Wenn diese Interpretation, also die Deutung der Häupter als toter Häupter  zutrifft, wäre das am Munde Befindliche ein weiterer Verweis auf ein in der Folklore hochbekanntes Motiv: Die entfliehende, oder dem Munde entströmende Seele, die als Pflanze oder Tier in Erscheinung treten kann   1).
Dabei ist es wichtig, festzuhalten, daß die Seele eben grundsätzlich aus dem Munde entweicht und aus keiner anderen Körperöffnung. Damit ist die Beziehung der hier besprochenen Motive zum heidnischen "Aberglauben" unbestreitbar.
Auch zwei Wesen, die ikonographisch hauptsächlich in Erscheinung treten, bekamen damit eine angemessene Erklärung:  Die Seele tritt entweder als Schlange oder aber auch als Vogel in Erscheinung. Zugleich kann sich aber die Seele in ihrer Transformation auch in eine pflanzliche Form begeben. Dies zeigt das Grimmsche Märchen vom Machandelbaum, wo sich das getötete Kind in einen Baum verwandelt oder in eine Blume, wie der antike Mythos von Narziss zeigt. Der aus dem Körper des Stammvaters hervorwachsende Stammbaum des Jesse in der gotischen Symbolik beinhaltet eine ähnliche Vorstellung.
Die hier besprochene Ikonographie kennt sowohl diese beiden Erscheinungsformen in Reinkultur - aber auch Mischwesen, die verschiedene Tierarten vereinen: Die Drachen.
Beitl bringt den Kern des hier demonstrierten Vorstellungsbildes auf den Punkt, wenn er sagt, eine von mehreren volkstümlichen Seelenvorstellungen sei es, daß die Seele als selbständiges Wesen im Körper gedacht werde.
Die Grundidee ist aber immer die, daß in dem Augenblick, wo die Seele den Körper über den Mund verläßt, eine ihrem Wesen angemessene Form annimmt: Schlange, Vogel, Pflanze oder formlose Kraft. Damit wird die elementarste Vorstellung von Seelenwanderung als über die unmittelbare Körperlichkeit hinausgehende Art des Weiterlebens bildlich demonstriert.  
Wichtig ist nun das Faktische, das die archaische Seelenlehre durch die hier dokumentierten Baudenkmäler der Romanik und Gotik gewinnt. Die archaische Seelenlehre ergab sich bisher als Resultat verschriftlichter Mitteilungen  aus Sage und Volksmärchen. Auch der eine oder andere mittelalterliche Text enthält entsprechende Hinweise. Doch mit der Verortung dieser Vorstellungsbilder in der romanischen und gotischen Kunst ist nicht nur eine tausendjährige Kontinuität der Bilder angedeutet. Schließlich stammen die entsprechenden ältesten romanischen Skulpturen aus dem Abschluß des ersten Jahrtausends, während die volkskundlichen Verschriftlichungen mündlicher Überlieferungen vom Ende des 19. Jahrhunderts stammen. Damit ist zugleich erwiesen, daß nichtchristliche, theologiefremde Vorstellungen, wie sie im volkstümlichen Aberglauben des 19. Jahrhunderts zweifelsfrei als Restbestand in Erscheinung treten,  zum festen Kanon des "kirchlichen", mittelalterlichen Bauschmucks gehören.     
Mit all dem würden wir allerdings an die vorchristliche Metaphysik und Psychophysiologie erinnert werden, nicht unbedingt also an ein „Gottesbild“ im hochreligiösen Sinne.
Es gibt aber noch eine andere Deutung, die mit der Position zusammenhängt, an dem diese Köpfe sich im kirchlichen Baukörper befinden: Sie sind nämlich an Kapitellen zu sehen, d.h. am oberen Teil einer Säule. Diese Säulen wiederum tragen das Dach oder das Gewölbe, welch letzteres in sinnbildlicher Beziehung zum Himmel oder zum Luftraum und Kosmos steht.
Gottheiten, die mit einer derartigen, kultisch zu sehenden Säule verbunden sind, existieren nun in der Tat sowohl in der antiken hellenistischen Religiosität als auch in der „germanischen“ Überlieferung.
Uwe Topper hat in seinem Buch "Zeitfälschung" von 2003 bereits auf diese beiden Aspekte, "heilige Säule" und Kopfkult hingewiesen.
Die Idee einer aus dem Körper heraustretenden Tierwesenheit stellt natürlich auch eine Querverbindung her zum Schamanismus. Und dann hätten wir es hier tatsächlich mit einer speziellen Darstellungsform von Spiritualität zu tun: Nämlich mit jenen Gottheiten (wie Odin), die sich bewußt in Tiere verwandeln bzw. mit den "Priestern" eines solchen Kultes, nämlich den Schamanen.
Was in besonderem Maße darauf hindeutet, ist die Symmetrie der Darstellungen. Diese haben weniger einen anekdotisch-erzählerischen Charakter, als vielmehr eine Tendenz zum Hinweisen auf eine symbolische Struktur.

Außereuropäische Aspekte

Beispiele aus Tibet, Nepal, Süd-, Mittel- und Nord-Amerika zeigen, daß das besprochene Motiv eine gewisse Universalität aufzuweisen hat. Dies verweist aber, wie man ausdrücklich bemerken muß, vielleicht auf eine Universalität des Vorstellbaren, der Vorstellungsmöglichkeiten. Es deutet nicht zwangsweise auf eine entwicklungsgeschichtliche oder wanderungsgeographische Abhängigkeit und Kausalität hin.



 
Neuwerkkirche Goslar



Meissener Dom



Paderborner Dom (Paradies)



Magdeburger Dom



Magdeburger Dom



Magdeburger Dom


 
Magdeburger Dom



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Heiliges Grab)



Abtei Gernrode (Kreuzgang)



Abtei Gernrode (Kreuzgang)



Abtei Gernrode (Kreuzgang)




Abtei Gernrode (Kreuzgang)



Abraham in der Bibel von Souvigny (12. Jhdt.)

 



Dresdner Zwinger



Spiritistisches Medium



Felsskulptur auf dem Istenberg (Aus: Elisabeth Neumann-Gundrum, Die Europäische Kulturkonstante - Urwissen Europas, Bad Langensalza, 1994
Moderne Aspekte

Neuzeitlich werden gewisse mittelalterliche Motive auch noch im Barock wiedergekäut und die Phantastik jener Epoche bemächtigt sich vieler versprengter Fragmente des Imaginativen. Mitunter trifft man aber auch auf Zusammenhänge, wo man sie nie vermuten würde. Daß es im modernen Spiritismus der Wende vom 19. zum 20. Jhdt.  eine motivische Parallele zu diesem ikonographischen Thema gibt, muß man erstaunt zur Kennntnis nehmen.
So gab es in dieser Epoche eine Reihe von sogenannten Materialisationsmedien, die behaupteten, sogenanntes "Ektoplasma" bilden zu können. Bei diesem Vorgang, der öfter fotographisch festgehalten wurde, entströmt dem Munde des Mediums während seines Trancezustands eine gallertartige, nebelhaft-weißliche Substanz. Aus dieser Substanz bilden sich dann schemenhaft Körperteile und Bilder von Menschen.

Die Reanimation des Prähistorischen
 
Die Betrachtung mächtiger, bizarrer Felsansammlungen hat die Vorstellungskraft vieler angeregt, die auf der Suche nach der Wesensessenz der vorgeschichtlichen Kulturen waren. Eine Forscherin dieses Teils der Geistesgeschichte war Frau Dr. Neumann-Gundrum. Auch sie fand den Symbolkomplex  des aus dem Munde Hervortretenden an derartigen Felsbildern vor.

Systematik als mögliche Deutungsstrategie

Wenn wir nun Bilanz ziehen in der Deutung des Materials, werden wir vor endgültigen Deutungen zurückschrecken. Indem wir die Variationen der Darstellungen verallgemeinernd zusammenfassen, kommen wir zu einer Gruppe begrenzter motivischer Konstellationen. Folgende motivische Gruppen sind im Material auszumachen:


-Sonderfall: Der strahlende Atem

-Menschengestaltiges Haupt  /  Entströmendes tierhaft

-Tiergestaltiges Haupt  /  Entströmendes tierhaft

-Menschengestaltiges Haupt  /  Entströmendes Energiestrom oder Kraft

-Entströmendes unklarer Gestalt

-Menschen – u. Tiergestaltiges Haupt  /  Entströmendes pflanzenhaft

-Menschengestaltiges Haupt / Entströmendes menschengestaltiges Haupt


Quellen zur Seelenvorstellung

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin / New York 1987, Bd. 7, Stichwort Seelenvogel sowie Seelenwanderung; Richard Beitl: Wörterbuch der deutschen Volkskunde, Stuttgart 1981, Stichwort Seele; Paul Herrmann: Deutsche Mythologie, Stuttgart o.J.: Die Seele in Tiergestalt, S. 14-33; Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie, Stuttgart o.j. (Neudruck der Ausgabe 1908, Seelen und ihre Erscheinungsformen, S. 80 ff.); Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, II. Band, Kptl. XXVI : Seelen; Frankfurt a. Main / Berlin, 1981.



Hinweise meiner Frau Birgit am 27.11.06 (Dia-Show zur Vortragsvorbereitung)

-Die Wesen, die hervorbringen, sind Mensch, Dämon, Tier, aber auch Gott

-Es sind nur Männer, oder Tiere, aber keine Frauen !

-Dasjenige, was sie hervorbringen, ist größer, umfassender, als sie selbst.

-Auf den Kapitellen des Goslarer Doms erweitern die hervorgebrachten Wesenheiten der Gottheit den Mund, öffnen ihn ihr. Darin spiegelt sich wider ein Rückbezug des Geschaffenen auf den Schöpfer.

-Die Frage ergibt sich, ob eine chronologische Anordnung der Bilder eine typologische Entwicklungsreihe ergäbe. Daran weiter zu forschen.


Am 13.12.2006 hielt ich im Berliner Salon für Forschung
und Geschichte einen Vortrag zum Thema

Bei dieser Gelegenheit bekam ich eine Reihe von Anregungen, die ich festhalten möchte, weil sie sich als fruchtbare Forschungsansätze erweisen könnten:
- Frau Angelika Müller wies mich darauf hin, daß ein großer Teil der gezeigten Darstellungen mit jener Gestalt Berührungspunkte zeigt, die als sogenannter "Grüner Mann" bezeichnet wird. Dieser Gedanke war mir neu, obwohl ich das Motiv kenne. Aber bisher hatte ich den grünen Mann als "Verwandten" der sogenannten Baumgeister betrachtet, die mir über die gotische Baumkreuzsymbolik und das Wurzel-Jesse-Motiv als Verweis auf eine vorchristliche Baumgottheit erschienen waren. Ich hatte diesen Komplex als abhängiges ikonographisches Motiv betrachtet, das mit der Atemgeburt nichts zu tun hat.
-Uwe Topper machte mich darauf aufmerksam, daß bei Holz- und Steinskulpturen  der gotischen Epoche ein beschriftetes Band in Mundnähe dargestellt wird, wenn eine Gestalt sprechend oder verkündend dargestellt wird.
Ferner verwies Uwe auf die Baphomet-Verehrung der Templer, ist doch die Rede davon, diese hätten ein sprechendes Haupt verehrt, was als Beweis ihrer Häresie und als Argument für die Vernichtung des Ordens benutzt wurde (s. Gerhard Zacharias: Satanskult und Schwarze Messe, Wiesbaden 1970, S.99)
-Dr. Eugen Gabowitsch schließlich schlug vor, das aus "dem Munde Hervorströmende" als Bild für das Mysterium der Sprache zu verstehen. Diesen Ansatz, Sprache als numinose, magisch anmutende Erscheinung zu verstehen, hängt sicher mit der Auffassung gewisser russischer Geschichts- und Chronologiekritiker zusammen, die das menschliche Sprachvermögen nicht älter als vielleicht tausend Jahre einschätzen. Wie dem auch sei, die "Magie des Wortes", die unbegreifliche Macht des gesprochenen Wortes ist ein so bedeutender Faktor in allen archaischen und historischen Kulten, daß mir auch diese Deutung der Erwägung wert scheint.  






Dresdner Zwinger



Spiritistisches Medium



Felsskulptur auf dem Istenberg - Deutung der Felsskulptur in der linken Spalte (Aus: Elisabeth Neumann-Gundrum,  Die Europäische Kulturkonstante - Urwissen Europas, Bad Langensalza, 1994)
________________________________________


Mythologisches,                  Theologisches...



In vielen alten Überlieferungen ist die Rede von einer göttlichen Kraft, die vor allem im Atem zum Ausdruck gelangt. Der menschliche Atem macht das sichtbar, was naturphilosophisch im Luftraum, im Wind als die Welt durchdringende Urkraft in unaufhörlicher Bewegung ist.
Diese Urkraft wurde z.T. personifiziert, wie z.B. in dem Gott Vata, den die vedischen Inder verehrten:
" Der Götter Hauch, dem Weltenall entsprossen,
Er fährt dahin, wohin es ihn gelüstet.
Man hört sein Brausen wohl, doch niemand sieht ihn.
Auf, laßt uns Vata hoch mit Opfern ehren !"
(Rigveda, übersetzt von Helmuth v. Glasenapp - Glasenapp, S. 18f.)
Oder in einem anderen Text:
" Dem Atem sei Verehrung, in dessen Macht dies All steht,
Der als der Herr des Alls wurde, auf den alles gestützt ist.
Verehrung Dir, Atem ! dir, dem Ruf sei Verehrung, dem Donner !
Verehrung Dir, Atem, dem Blitz, Verehrung dir, Atem, dem Regnenden !
Wenn der Atem mit dem Donner die Kräuter anruft,
Empfangen sie, befruchten sich, dann werden sie vielfältig....."
(Atharva-Veda XI, 4, übers. v. Walter Ruben, Ruben S. 29)
Eine ähnliche Vorstellung, nämlich daß Wind bzw. Odem sich in Wasser verwandelt, finden wir auch bei Heraklit:
" Es lebt das Feuer der Erde Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod, die Erde den des Wassers".
(übersetzt von Bruno Snell, Heraklit - Fragmente, S. 25)
Walter Ruben betrachtet jene, die im Atem die wesentliche Urkraft verehrten, als eine eigene philosophisch-spirituelle Schule : Er spricht von den "Atem-Wind-Magiern". Daneben gibt es noch andere Betrachtungsweisen, die alle auf kosmologischen und naturphilosophischen Wahrnehmungen und Überlegungen fußen: z.B. solche, die der Sonne oder dem Feuer die Hauptbedeutung in der Entwicklung des Lebens zuschreiben.
Cicero teilt uns in seiner Schrift "Vom Wesen der Götter" mit, daß zumindest zwei antike Philosophen einen universalen Gottheitsbegriff entwickelt hatten, der mit der Luft zusammenhing: "...Später hat Anaximenes die Luft zu einem Gott erklärt und er läßt ihn entstehen und unermeßlich, unendlich und in ewiger Bewegung sein..."        
(Cicero, S, 35)
Auch eine Bemerkung von Hippolytos belegt, daß Anaximenes die Luft als eine Art Urschöpfungs-Element betrachtete: " Anaximenes (...) sagte, das Prinzip sei die unbeschränkte Luft, aus der das Entstehende und Entstandene sowie was sein wird und Götter und Göttliches hervorkämen"
(Mansfeld, S. 97)
"...Und dann die Luft, die Diogenes von Apollonia als Gott gebraucht - welches Empfindungsvermögen oder welche Gestalt eines Gottes könnte sie haben ?..."
(Cicero, S. 41)
Ich habe diese ausführlichen Zitate aufgeführt, um darzulegen, daß die Idee einer die Schöpfung "eratmenden" Gottheit nicht spekulativ ist, sondern im Bewußtsein archaischer Naturphilosophie sehr präsent war - wann immer auch die erwähnten Texte entstanden sein mögen. Natürlich gibt es auch in der Genesis des Alten Testaments ähnliche Ideen.
Aber der "alttestamentarische" Monotheismus ist keine Naturphilosophie, sondern eher eine personalistische und chauvinistische Gewaltlehre.
In den Darstellungen romanischer Säulenkapitelle hingegen wird die Schöpfung durch den Odem der Gottheit so betont, daß ich in ihr den Ausdruck einer Spiritualität alteuropäischer "Atem-Wind-Magier" sehe.