Matthias Wenger


Prähistorische Monumentalfelskunst am Beispiel der Externsteine - ein Versuch über die

Beweggründe ihrer Schöpfer



Die Externsteine demonstrieren die Gestaltung eines künstlerischen Schaffens, das von größter Vielfalt gekennzeichnet ist.

Worin aber bestand die Sinngebung des prähistorischen Kunstschaffens ? War es gleichsam die Illustration einer mythologischen Weltsicht ? Oder hatten die erkennbaren Felsskulpturen einen Zeichencharakter und damit einen funktionellen Bezug ? Betrachtet man die an den Externsteinen aufscheinenden Felsbilder in ihrem Gesamtzusammenhang, deuten sich verschiedene Bezüge an: Hinweise auf kultisch-rituelles Geschehen, auf historische Erlebnisse, Hindeuten auf astronomische Bezüge und bewahrende Weitergabe eines wichtigen kollektiven Wissens.

Die "Bilderbibeln" farbiger Glasfenster der gotischen Dome erscheinen als ferner Nachhall einer solchen "archaischen Datenbank" im Medium sakraler Kunst.

So ergibt sich als ein Grundproblem der Bilddeutung an archäologischen Objekten: Inwiefern besteht überhaupt die Möglichkeit, die Ikonographie derartiger Werke ins Verhältnis zu Textüberlieferungen zu setzen, um sie dadurch zu dechiffrieren ?

Aber nicht nur diese inhaltlichen Bezüge wecken das Interesse des Betrachters dieser Felsbildkunst. Auch die Frage, welche besonder Art von Kunst hier vorliegt, muß man sich stellen. Es wird um die noch aus der frühmittelalterlichen westeuropäischen Kunst belegbare Wahrnehmung gehen, daß hier ein anderer Kunstbegriff bestand, als in der simplen bildlichen Reproduktion vereinzelter Objekte, wie es die bürgerliche, neuzeitliche Kunst versteht.

Was in dieser Hinsicht an den Externsteinen sichtbar wird, läßt sich darüber hinaus an Erscheinungen ähnlicher Felsanlagen in verschiedenen Teilen Europas verdeutlichen - wie dem von Frau Elisabeth Neumann-Gundrum erforschten Istenberg, der Teufelsmauer bei Thale oder den Felsskulpturen des Elbsandsteingebirges.



Wenn wir uns die Frage nach dem künstlerischen Schaffen an den Externsteinen stellen, wird unser Blick zunächst auf das ganz Bekannte, Unumstößliche fallen:

Das große romanische Relief der "Kreuzabnahme" am Felsen 1 ist bereits von Goethe eingehend beschrieben worden.





Bild 1


Was als allernächstes immer wieder ins Auge fiel, war der "Hängende" am Felsen 4.







Bild 2

Bild 2a


Hier noch einmal in der zeichnerischen Nachgestaltung von Helmut Bischoff (1917 - 2003)





Bild 3


Wenn man nach den Gründen der Popularität dieses Felsbildes fragt, wird man an den großen Kreis der interessierten Betrachter denken: Es sind nicht nur die für ein esoterisches Christentum aufgeschlossenen Anthroposophen, die die Externsteine als Mysterienstätte gesehen haben. Es sind auch Anhänger germanischer Kulte, für die der Hängende den Gott Odin verkörpert. Wie die Edda schildert, opfert er sich selbst an der Weltenesche, um die Weisheit der Runen zu erlangen.

Aber bereits hier, an diesem Bild, das von der Wahrnehmung her allen zugänglich zu sein scheint, treffen wir auf ein Kunstverständnis, das vom klassischen abendländischen Kunstverständnis abweicht. Das konkrete Körperbild, wie wir es über das 19. Jhdt., die Porträtmalerei der Renaissance bis zur gotischen Skulptur der Naumburger Stifterfiguren und dann wieder einmündend in die hellenistische Skulptur vorfinden, ist nicht Gegenstand dieser Kunst !

Es ist vielmehr eine energetische Abstraktion, die den Körper im Fluß seiner Haltung innerhalb des Raums nachempfindet, die hier zur Darstellung gelangt.

Es gibt kein detailliertes Gesicht, keine differenzierten Glieder, keine anatomisch nachvollziehbaren Strukturen. Aber die Haltung des Hängenden, die Wesensart seiner Körperlichkeit wird dargestellt. Die Agonie des sein Haupt senkenden, der zugleich zutiefst mit den Beinen in der Erde verfestigt ist und mit den Armen das All umfaßt - das ist es, was diese Felsskulptur deutlich verkörpert.

Kunstgeschichtlich ist eines klar: Wenn hier wirklich ein geschaffenes Kunstwerk vorliegt (und die Findung einer Opfergabe in der "Seitenwunde" aus prähistorischer Zeit durch Wolfhard Schlosser belegt die kultisch-prähistorische Bedeutung desselben), so befinden wir uns hier jenseits aller bekannten kunstgeschichtlichen Kategorien innerhalb des historischen Mitteleuropa.

Als Chronologiekritiker stehe ich vor der einfachen Tatsache, daß hier eine künstlerische Richtung vorliegt, die in den bekannten Epochen und Phasen der abendländischen Geschichte unbekannt ist.

Bevor wir versuchen, weiteren Hinweisen auf diese Entwicklung nachzugehen, sei die Frage nach der Einordnung des "Hängenden" im Verhältnis zu anderen Skulptierungen an dieser Seite der Externsteine gestellt. Da fällt uns auf: Vom Hängenden gelangen wir weiter rechts über das Kreuzabnahmerelief zum Grab.





Bild 3b


Wir haben also die verschiedenen Stationen eines vermutlichen Mysterienweges räumlich hintereinander angeordnet.





Bild 4


Damit ist auch schon ein Wesenszug dieser Kunst angedeutet, der unserem Kunstverständnis zuwiederläuft: Hier werden nicht wie in einer Galerie Bilder präsentiert, die je für sich zwecks Anregung der Phantasie des individuellen Betrachters angeordnet sind.

Die Skulpturen unterliegen vielmehr der Zielsetzung, den Ablauf einer kultischen Handlung, ihre einzelnen Schritte und Stationen zu markieren. Es ist also weder der zeichenhafte Verweis allein, geschweige denn eine künstlerische Ästhetik, sondern begleitende Zeichenhaftigkeit einer rituellen Handlung, bzw. eines überlieferten Geschehens.


Bevor wir uns dem bildnerischen Wesen dieser Kunst weiter zuwenden, schon hier ein allgemeiner Hinweis zur Sinngebung des bisher Besprochenen.

Güther Heinecke hatte uns mit seinen Arbeiten darauf hingewiesen, daß die Reihung der einzelnen Felsen der Externsteine einer astronomischen Ortung folgt: Sie befinden sich in einer südöstlich/nordwestlichen Linie.



Bild 5


Damit verweisen sie einerseits auf den Sonnenaufgangspunkt der Wintersonnenwende, als auch auf den Sonnenuntergang der Sommersonnenwende.

Die Beziehung dieser beiden Zeitpunkte zu den maßgeblichen Festen einer europäischen Spiritualität wird ihnen bekannt sein - Geburt und Tod der Sonnengottheit, Weihnachten und St. Johannis.

Nun stellen wir fest, daß wir uns bei der Abfolge Hängender, Kreuzabnahme, Grablegung räumlich linear auf den Punkt des Sonnenuntergangs zur Sommersonnenwende zubewegen ! Das ist wohl mehr als Zufall.

Was diese kultische Systematik angesichts der Bilder auf der anderen Seite der Felsreihe beinhaltet, dazu später mehr.


Stellen wir uns zunächst kritisch die Frage: Verfallen wir mit der Wahrnehmung dieser Bilder an den Steinen in eine Art von Spökenkiekerei, die uns Dinge sehen läßt, die gar nicht da sind ?

In jedem Fall ist die Bildhaftigkeit der Felsformationen eine imaginationsanregende Impression, der man sich nicht leicht entziehen kann.

Dafür einige historische Beispiele:







Langewiesche

Bild 6

Bild 6b








Machalett

Bild 7

Bild 7b





Hantl

Bild 8







Neumann-Gundrum

Bild 9

Bild 9b

Bild 9c







Dr. Meier

Bild 10 ("Die Trauernden" copyright Dr. Gert Meier Dezember 2005)

Bild 10a

Bei diesem Beispiel wird aber sofort klar, wie leicht ein modernes künstlerisches Verständnis, das aus der griechisch-römischen Kunst resultiert, auf die Bildwerke der Steine projiziert werden kann.







Bild 10b

Bild 10c





Wenger: Der Wackelstein

Bild 11

Bild 12


Wenn wir uns nun die "Rückseite" der Felsreihe der Externsteine anschauen, müssen wir uns rechts neben dem Hängenden, unterhalb des Wackelsteins durch den Durchgang auf den Weg Richtung Kreuzkrug begeben.





Bild 12a

Bild 12b


Jetzt schauen wir rechts vom Wackelstein bis zu jenem Felsprofil, das steil abfällt in den aufgestauten Teich.

Was sehen wir da, welches Bildprogramm fällt uns ins Auge ?

Es ist, in der Reihenfolge von jeweils rechts nach links, von unten nach oben:

Fels 5: Ein Schweineprofil :





Bild 13


Fels 4: Hirschkuh – Hund:





Bild 14


Fels 2:





Bild 15 (Gesamtüberblick)


Giraffe:





Bild 16


Kuh :





Bild 17


Bärtiger weiser Alter - Seine Augen sind am Unterkiefer der Kuh:





Bild 18


Reptil:





Bild 19


Mephisto-Typus:





Bild 20


Noch darüber, ganz oben: Ein Katzen- oder Löwenhaupt





Bild 20a


Fels1a: Ein Liegendes knollennasiges Antlitz, eines Schlafenden oder in Trance Befindlichen, der zu Mephisto emporschaut:





Bild 21


Eine "Hexe":







Bild 21a

Bild 21b


Fels1: Gesamtüberblick





Bild 22


Eine Reihe grotesker menschenähnlicher Gesichter, die überwiegend an der nordwestlichen "Wasserkante" übereinander angeordnet sind.


Im Detail finden wir hier, von rechts unten nach weiter oben:











Bild 24

Bild 24b

Bild 25

Bild 26

Bild 27


Betrachtet man diese Felskante aber aus einiger Entfernung, so sieht man nur noch ein einziges, markantes Gesichtsprofil





Bild 27a


All diese tierischen und menschlichen Wesen haben Folgendes gemeinsam:

Es sind lediglich ihre Köpfe abgebildet

Sie schauen (mit der Ausnahme 1a) nach Nordwesten, also dorthin, wo die Sonnengottheit zur Sommersonnenwende den Weg in die Unterwelt beschreitet !

Auch dies wäre wohl ein seltsamer Zufall, wenn es sich bei der bildnerischen Bewertung der Felsformationen um reine Phantasie handelte.

Was ist das nun für ein Bild, das sich hier im Großen dargestellt findet, einmal abgesehen von der möglichen sinnbildlichen Bedeutung der Einzelstücke ?

Es ist doch die Gemeinschaft der lebenden Wesen, die sowohl Menschen, als auch Tiere umfaßt. Dies ist ein anderes Bild von lebendiger Gemeinschaft im ökologisch-spirituellen Sinne, als es das römische und bürgerliche Recht wahrhaben will, in der nur der Mensch als Person, das Tier aber als Sache gilt.

All diese Wesen schauen zum Tor der Unterwelt. Sie wissen, daß der heilige König und Herrscher, der um ihres Wohles willen geopfert wird, nun diesen Weg zu den Ahnen beschreitet. In dieser anteilnehmenden Wahrnehmung begleiten sie ihn mit ihrer Schau. Es ist hier also plastisch, in reliefartiger Skulptur dargestellt, was wir an den inzwischen hunderten gefundenen Steinkreisen und Kreisgrabeanlagen in ganz Europa zu erahnen vermögen: Die Markierung der Aufgangs- und Untergangspunkte der Sonnenfeste im Jahreslauf waren Visualisationspunkte an der Horizontlinie, auf die sich der Blick einer Kultgemeinschaft richtete.

Allerdings war das nicht Kult um des Kultes willen, es war ein für das physische Überleben einer bäuerlichen Gemeinschaft notwendige kalendertechnische Repertoire.


Trotzdem sind wir hinsichtlich der künstlerischen Formgestaltung des Dargestellten nachdrücklich irritiert.

Wir sehen nur Köpfe.

Und an der Wasserkante des Felsens 1 fungieren Teile dieser Kopfprofile zugleich als Bestandteile darüber- oder darunterliegender Gesichter.


Verschaffen wir uns noch mal einen strukturellen Gesamtüberblick über die ins Auge fallenden Bilder:



Bild 27b


Was ist das für ein grenzüberschreitendes und gleichsam amorphes Verständnis von organischem Wesen ?

Allerdings gibt es Formen sakraler Kunst, in der eine solche Darstellungsform üblich ist: Beispielsweise die Totempfähle indianischer Stämme Nordamerikas:







BILD 28

BILD 28a (Wappenpfahl, Tsimshian, frühes 20. Jhdt., Smlg. Sablatnig, 1955, Museum für Völkerkunde, Berlin Dahlem).


Gisela v. Frankenberg klärt uns darüber auf, daß ein Totempfahl ein vor dem Haus einer Familie aufgestellter bis zu 15 m hoher Pfahl ist, der die tierhaften Ahnengeister der Familie zeigt. Aber auch als Behältnisse für die Toten wurden sie benutzt, indem ihre Asche in einer Nische auf der Rückseite aufbewahrt wurde.

(Kulturvergleichendes Lexikon, Bonn 1985, S. 610)

Das ist nun hier an den Externsteinen besonders interessant: Befindet sich doch auf der anderen Seit jener mit Köpfen besetzten Steinkante am nordwestlichen Punkt eben das Felsengrab !


Diese Art von Bildstruktur gab es aber auch in Europa, wie das Grimmsche Märchen Nr. 27, die "Bremer Stadtmusikanten" zeigt !





BILD 28ba

Aber auch in einer anderen bildnerischen Kultur, der frühneuzeitlichen "Anatomie der Dämonen" begegnen wir einer derartigen, grotesken Zusammenfügung von Köpfen an und in den verschiedenen Teilen eines Körpers.





Bild 29


Ist damit vielleicht gemeint, daß Teile unseres Körpers ein Eigenleben führen, das ihnen den Charakter unabhängiger und eigenständiger Wesenheiten verleiht ? Was heißt es denn, wenn jemand sagt, ich höre auf meinen Bauch ?

Das Christentum hatte eine andere Vorstellug vom Körper, vetrat es doch die Auffassung, daß der Geist in der Position der göttlichen Herrschaft seine Macht über die übrigen Teile des Organismus auszuüben habe.

Wenn man Mystik und Biologie verbindet, kann man die Vorstellung entwickeln, daß unsere verstorbenen Vorfahren in den Erbanlagen, Zellen und Organen unseres Körpers wieder aufleben.


Bei der Atemgeburt, einem von Elisabeth Neumann-Gundrum entdeckten Motiv, wird nun deutlich, welche spirituellen Traditionen aus einem Kunstwerk ersichtlich werden können. Betrachten wir kurz ein bekanntes Beispiel aus ihrem Werk "- Urwissen Europas Europas Kultur der Großskulpturen":







Bild 30

Bild 30a


Hier wird also dargestellt, wie ein kleinerer Kopf aus dem Mund eines wesentlich größeren Kopfes hervorzuströmen scheint.


Was ist hier nun das grundlegend andere an dieser Art von Kunst ?

Es besteht im Grunde darin, daß biologische Elemente oder Lebewesen in einem Zusammenhang gezeigt werden, der keiner bio-logischen Zwecksetzung oder einer einfachen Funktionalität mehr entspricht.

Was hier dargestellt wird, ist nicht simple physische Realitätsbeschreibung. Es ist ein Niederschlag der freien, ungehemmten geistig-seelischen Tätigkeit des Menschen, der freien Assoziation. Bei dieser Tätigkeit werden alle hintereinander auftretenden inneren Erinnerungs- und Wahrnehmungsbilder ihrer emotionalen Bewertung, also Wichtigkeit nach verknüpft, das heißt, ohne Rücksicht auf konventionelle Logik miteinander verbunden.

Hier liegt eine psychische Schicht im Menschen vor, die von der simplifizierenden, dualistischen Logik verdrängt wurde, und durch die Zensur der Ratio während des Wachbewußtseins niedergehalten wird, wobei sie im Traumleben ihre kreative Kraft zurückerlangt.

Die Bewertung der freien Assoziation als "chaotisch" ist jedoch unzweckmäßig, denn sie ist durchaus sinnstiftend, Sinnzusammenhänge aufzeigend.

Nehmen wir das Beispiel mit dem Kopf, der im Munde eines größeren Wesens erscheint.

Was geht aus dem Munde eines Menschen hervor ?

Zum Beispiel: Speichel, Atemluft, Worte, also Kommunikationsinhalte. Wie kann man es sinnvoll darstellen, daß ein Mensch mit Autoritätsstellung eine Botschaft hervorbringt, wenn nicht durch eine verkleinerte Darstellung eines anderen Menschen in seinem Munde ?

Oder: Wie könnte man die Abstammung eines Menschen aus einfacheren Formen oder seine Verwandschaft mit ihnen anders darstellen, als durch ein Übereinander oder Nebeneinander von menschlichen und tierhaften Gestalten ?

in der Tat wären diese Formgestaltungen also schon erheblich mehr, als nur Reproduktionen von physisch Wahrnehmbarem - die unendlich simplifizierende Intention der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Die archaische Kunst kombiniert physische Elemente in eine neuartige, sinnstiftende Struktur - damit ist es die Ideographie, die zu ihrem Darstellungsgegenstand wird.

Halten wir also fest, daß die archaische Kunst unterschiedliche physische Erscheinungsformen einer Sache an einem gemeinsamen Ort und wie in einer Gleichzeitigkeit erscheinen läßt.


Ich hatte gesagt:

In der Dynamik der freien Assoziation liege eine psychische Schicht im Menschen vor, die von der simplifizierenden, dualistischen Logik verdrängt wurde, und durch die Zensur der Ratio während des Wachbewußtseins niedergehalten wird.

Wir hatten uns nun schon öfter mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß dieser innere Kampf der menschlichen Seele nur den inneren Niederschlag eines äußeren, historischen und gesellschaftlichen Machtkampfes darstellt.

Die hier vorliegende Gegenüberstellung unterschiedlicher Gestaltungsformen des Seelischen spiegelt im Grunde den Konflikt wieder zwischen den bäuerlichen archaischen Stammesgesellschaften und den neuzeitlichen, monotheistischen und zentralistischen Regimen.

Die Frage ist: Läßt sich diese Auseinandersetzung auch ablesen an den Urgründen der europäischen Kunst des Mittelalters ?

In der Tat stößt man auf verschiedene Abstufungen einer Herausbildung der simplen und vereinzelten "Gegenständlichkeit" im Verhältnis zu einem Darstellungsmodus, der die universelle Verschränkung der verschiedenen Formen des Seins verkörpert - bis hin zur vollkommenen Aufhebung des Gegenständlichen.


Die Stationen dieser Abstufung sind:

-Die "kaleidoskopische Metamorphose" (Otto Pächt), "ein Gestaltungsvorgang, der ein Zeitmoment, wenn auch ein irreales wesentlich miteinbegreift. Im Lesen des Buchstabens wohnen wir seiner Genese bei, beinahe als ob uns eine Geschichte erzählt würde" (S.53)







Bild 30ab

Bild 30ac


Das Spannende ist, daß Pächt, indem er Buchmalereien des Mittelalters beschreibt, aufgrund seiner akribischen Detailbeobachtung Einblick in eine andere Art künstlerischer Gestaltung gibt:

"Es ist Form im Werden, die uns jetzt vorgeführt wird. Freilich ist es keine natürliche, sondern eine organisches Leben simulierende phantastische Beweglickeit...Diese Dynamik gewinnt aber noch eine weitere Dimension hinzu, dadurch daß sie imstande ist, im fließenden Übergang eine natürliche Spezies in eine andere zu verwandeln. Unerwartet setzt sich ein Fisch in einen Vierfüßer fort, endet eine Pflanze statt in einer Blüte in einem Tierkopf, wird organische zu unorganischer Form... jetzt findet ein unaufhörliches sich Verwandeln der einzelnen Formen der Natur statt" (S.52f)

"Nirgends ein Verweilen in derselben Gegenstandssphäre, überall rastloses Sichverwandeln und ewiges Sichverknoten." (S.86)

"...Namentlich in der normannischen Malerei kann man deutlich die Tendenz spüren, figürliche Elemente nicht frei auftreten zu lassen, sondern sie wenn möglich einem ornamentalen Verband einzuordnen...Es hat den Anschein, als ob das eigenständige Bild suspekt geworden wäre und sich im Dickicht eines kunstvoll verschlungenen Ornaments ... verstecken wolle." (S.82)

Und an anderer Stelle spricht Pächt vom "...Existenzraum der Figurenwelt.., für den die Gesetze des natürlichen oder illusionistischen Bildraums, etwa die einer gemeinsamen Stand- oder Bewegungsfläche der Akteure, nicht mehr gelten. Allen Personen obliegt jetzt eine doppelte Aufgabe: mit den Gegenspielern zu kommunizieren ... und zugleich im Rankengeschlinge einen Platz oder Halt zu finden, so als ob sich alle Aktion nur in diesem gerüsthaften Gewebe abspielen könnte." (S. 90)

"...Die von ihren nordisch-barbarischen Ursprüngen her belastete, ornamental ausgerichtete Formphantasie..." (S.138)

"Es ist ein Charakteristikum dieses Stils, daß man die Figuren einer Gruppe gar nicht im einzelnen auseinanderhalten kann. Sie verstecken sich gleichsam selbst durchn ihr Gefüge von Falten und Konturen, so daß sie unentwirrbar scheinen". (S. 138)

Sehr treffend beschreibt Pächt dann auch den Übergang von der archaischen zu einer neuzeitlichen Version des Künstlerischen am Beispiel der byzantinischen Epoche:

"Da die menschliche Figur unter byzantinischem Einfluß einen inneren Halt gewonnen, ihre quecksilbrige Elastizität verloren und die Zwitterhaftigkeit einer anthropomorphen Arabeske abgestreift hat, ist sie nicht mehr imstande, sich nach der Decke einer ornamentalen Ordnung zu strecken, während auf der anderen Seite das vegetabile Ornament seine mimischen und physiognomischen, kurz animistischen Qualitäten verliert und zu einem rein dekorativen Element wird" (S. 142)


-Verschränkung von Pflanzlichem, Tierischem, Menschlichem und anderen Objekten, viielschichtige Verschränkung von Körpern








Bild 30b (Magedeburger Dom)

Bild 30c (Magedburger Dom)


Das ist ein Modell, wie wir es eigentlich auch in der Kultur der Bildsteine finden, die sich durch eine universelle Verbreitung auszeichnet:


-Jordanische Bildsteine

-Bronzezeitliche Felsritzbilder aus Südskandinavien


Ein Gesicht, das gewissermaßen als Ausläufer einer nichtkubischen Struktur in Erscheinung tritt.





Bild 30cda


-Feuersteinfunde aus Brandenburg

Wolfgang Fischer: Ein ziemlich deutlicher Kopf mit einem schräg geschlagenen Turmausleger, in der hellen Fläche des Turmauslegers ist ebenfalls ein Gesicht zu erkennen.





Bild 30ce


Diese Steinfläche ist übersät mit architektonischen Andeutungen. Unten rechts ist eine große Kugel mit einem schwarzen Aufsatz der schräg nach oben zeigt. Im Fundamentbereich der Kugel sind mindestens fünf architektonische Objekte zu erkennen.







30cea

30ceb


Im Bildteil des Steines ist links oben ein kleines Haus mit einer dunklen Tür, einem weißen Dach und einem kleinen Turm zu sehen.





Bild 30cef


-Bosch und Breughel als Beispiel aus der frühneuzeitlichen Malerei







Bild 30cf - 30cg


-Anfügung organischer und pflanzlicher Lebensformen an geometrisch-ornamentale Strukturen.







Bild 30d (Magdeburger Dom)

Bild 30e (Armenien 7. Jhdt.)

Bild 30f (Jelling-Stein, Mitteljütland, 10. Jhdt.)


Verfolgen wir diese Thematik weiter am Beispiel der weiten Verbreitung der sog. Schlingbandornamentik:





Bild 31


Folchart-Psalter (St. Gallen um 850; Holzapfel: "Angelsächs. Stileinfluß auf die karolingische Kunst...im Schmuck "heidn." Tierornamentik")


-Reine geometrisch-ornamentale Strukturen als eigentlich bildlose Darstellung von Lebenszusammenhängen.

Letztere Darstellungsform findet sich übereinstimmend in verschiedenen Kulturen, die gleichwohl völlig unterschiedlichen ethnischen und kulturhistorischen Wertsystemen zugeordnet werden. Dabei läßt sich feststellen, daß das Geometrisch-Ornamentale fast immer eine bestimmte metaphysische Dimension andeutet.


-Byzantinische Kunst

-Angelsachsen

-Kelten (Iren)

-Wikinger

-Armenier

-mitteleuropäische Romanik

Otto Pächt: "In der romanische Epoche feiert die barbarische Idee der Formverschlingung nach mehrhundertjähriger Pause plötzlich ihre Auferstehung, in der Monumentalskulptur, wie in der Buchmalerei ... Alle Künste der Formverschränkung verbinden sich mit denen der Formmetamorphose" (S. 60)


-Islamische Kunst



Kanzel einer Moschee in Oberägypten, 12. Jhdt., Islamisches Museum, Berlin 2009



Elfenbeinkasten, Unteritalien o. Sizilien, 11. - 12. Jhdt., Islamisches Museum, Berlin 2009



Gebetsnische Konya, Türkei, Beyhekim-Moschee, 3. Viertel 13. Jhdt., Islamisches Museum, Berlin 2009



Koranständer Konya, Türkei, 13. Jhdt., Islamisches Museum, Berlin 2009

Eine kurz angerissene Theorie zur Bedeutung dieser Darstellungsform könnte man so formulieren: Es geht bei der Schlingbandornamentik um die Aufhebung des singulären Lebewesens durch die Aufzeigung einer energetischen Einheit, die sie verbindet, oder ihr zugrundeliegt. Das labyrinthische, "Verstrickende" und Abgeteilte des Welterlebens verweist in der Überschau gleichwohl auf die Einheit und Allverbundenheit des Vereinzelten in einem größeren Zusammenhang.





Bild 35 (Prähistorisches Labyrinth aus England, überliefert 1686 - aus: Janet & Colin Bord: Mysterious Britain, Frogmore 1974


Literatur:

Holzapfel, Otto: Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg 1993

Katholing, Winfried: Die Groß-Steinskulpturen – Kultplätze der Steinzeit ? Aschaffenburg 2001

Pächt, Otto: Buchmalerei des Mittelalters, München 2000



Diese Arbeit geht auf einen Vortrag zurück, der auf der Jahrestagung des Forschungskreises Externsteine e.V. zu Himmelfahrt 2008 gehalten wurde (s.

www.forschungskreis-externteine.de (Rubrik Rückschau)