Der
naturreligiöse Charakter der
alteuropäischen
Religion
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von
Matthias Wenger
Vortrag gehalten auf der Tagung des Arbeits- und Forschungskreises Walther Machalett im Juni 2000
In
einem Zeitalter, das die grundlegenden Gegebenheiten menschlicher Existenz
dem unbegrenzten Profitstreben ausliefert, wird ein neues Nachdenken über
weitreichende, über das Alltägliche hinausgehende Sinngehalte
notwendig.
Aber
diese Sinngehalte erscheinen seltsam austauschbar, wie seltsame Schemen,
die wir in unseren Gedanken greifen können, weniger aber in einer
sinnlich begreifbaren Wirklichkeit.
Gemeinschaftsgedanken,
die sich an künstlich gebildeten Massengesellschaften oder anderen
anonymen Formen anschließen, stehen im Vordergrund.
Diese
Sinnentleerung ist von langer Hand durch einen kulturgeschichtlichen Prozeß
veranlaßt worden, der sich auf eine bestimmte Vorstellung vom Heiligen
gründet.
Und
das Mittel, das im Wesentlichen zu diesem Bild vom Heiligen hindrängte,
ist die Macht der Abstraktion.
Sowohl
in den Steppen Südrußlands als auch in den Wüsten Arabiens
beginnt sich im zweiten bis dritten Jahrtausend vor der Zeitenwende eine
Verwandlung abzuzeichnen, die einige grundlegende Übereinstimmungen
aufzuweisen hat:
1.
Den Begriff der Reinheit des Geistes gegenüber der Beflecktheit des
Stoffes.
2.
Die Verlagerung des Heiligen von charakteristischen Erscheinungen der Erde
und des Himmels hin zur Machtentfaltung von Stammesführern.
3.
Die Proklamation der Einheit der Erscheinungen des Lebens in einem „Gesetz",
das entweder als Kraft oder als Person verstanden, Herrschaft beansprucht.
Ich
verrate Ihnen bestimmt nichts Neues, wenn ich feststelle, daß Patriarchat,
Feudalismus, Monotheismus und Militarismus nichts anderes als weitreichende
Folgeerscheinungen dieser Entwicklung waren.
Der
aktuelle Stand dieses Prozesses zeigt ein Lebewesen Mensch, das an Bildschirme
gebunden, sozial atomisiert von chemischen Produkten genährt vor allem
von einem gekennzeichnet ist: von grenzenloser Angst gegenüber der
eigenen und der es umgebenden Natur.
Religion
wird von diesem Wesen verstanden als zutreffender Gedanke über das
„Allumfassende", Ethik als zutreffende Idee von richtigem Verhalten und
Wahrnehmung der Welt als angemessene Vorstellung vom Wesen der Welt.
Wir
haben hier die letzte Stufe einer Entwicklung vor uns, die von der Philosophie
der Inder und Griechen, der christlichen Theologie und der modernen westlichen
Philosophie vorbereitet worden sind.
Gibt
es etwas, was man all dem entgegenstellen könnte ?
Wenn
wir jetzt die Frage stellen, worauf die Menschen im alten Europa ihre Aufmerksamkeit
in erster Linie gerichtet haben werden, so lautet unsere Antwort: Sie muß
wohl gerichtet worden sein auf das Lebendige und sich Bewegende, auf die
elementaren Tatsachen des Lebens:
Auf
die Erscheinung der Gestirne, den Zustand des Himmels, das Leben der Pflanzen,
auf die Erhebungen und Vertiefungen der Erde und ihre Substanz, Gewässer,
wilde und gezähmte Tiere - und schließlich die elementaren Gegebenheiten
menschlicher Wesenheit: Die Rückerinnerung an die verstorbenen Ahnen,
die Anspannung junger kraftvoller Körper, die Weisheit und Lebensfülle
der Älteren.
All
diese einfachen Tatsachen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und
das Heilige in jeder von ihnen kraftvoll gefühlsmäßig wahrzunehmen,
heiße ich Naturreligion.
Kraftvoll
gefühlsmäßig wahrzunehmen, sage ich, nicht aus analytisch
aufbereiteten Datensammlungen ihre Bedeutung zu erweisen, wie heutige Wissenschaft
es glaubt, tun zu müssen.
Diese
Einfachheit der sinnlichen Wahrnehmung ist uns verloren gegangen, wir bewegen
uns innerhalb unserer Gehirne inmitten der Bilder von Abbildern, die widerum
Widerspiegelungen von Gedanken anderer sind
Sich
dieser Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung auszuliefern, ist aber
mehr, als seichte Naturromantik - es ist die härteste und ein ungeheures
Maß an Disziplin erfordernde Praxis unseres Geistes.
Um
so schlimmer, das es fast nichts und niemand in unserer Zivilisation gibt,
was uns darin bestärkt !
Wie
bestärken wir uns dazu am besten ?
Indem
ich die Antwort zunächst zurückstelle, konfrontiere ich sie mit
den Spuren von einstmals Bedeutendem. Schauen wir in die nordische Überlieferung
der Völkerwanderungszeit hinein, so dokumentieren die Tiere der Götter
die einstmalige Verbindung zwischen dem Heiligen und dem Tierischen. Der
Gott Freyr mit seinem Eber Gullinborsti, die Göttin Freya mit ihren
Katzen, der Gott Thor mit seinen Böcken oder Odin mit seinem Hengst
Sleipnir.
Die
Erzählungen der Mythen wie Thors Tötung und Wiedererweckung seiner
Böcke oder Lokis Verwandlung in eine Stute offenbaren eine religiöse
Schicht, in der Gottheiten Tiere nicht als Attribute mit sich führen,
sondern selbst Tiere sind.
Es
ist dies eine Sichtweise, die die menschliche Aufmerksamkeit auf jene Tiere
lenkt, die für das menschliche Leben von elementarer Bedeutung sind.
Das hat nichts mit okkulten oder dämonologischen Phantasmata zu tun,
sondern nur mit der Wirklichkeit des Waldbewohners, des Viehzüchters,
des Bauern.
Zitat
Tacitus: „Übrigens verträgt es sich nach Ansicht der Germanen
nicht mit der Erhabenheit der Himmlischen, sie in Tempel einzuschließen
und menschenähnlich darzustellen." (Tacitus, Germania, Kptl. 9, Übersetzung
Curt Woyte).
In
religionsgeschichtlichen Übergangsformen wie dem Hinduismus oder der
altägyptischen Religion tragen menschengestaltige Gottheiten Tierköpfe,
aber auch aus unseren Breiten wie den Felsbildern aus Bohuslän ist
derartiges bekannt.
Es
waren aber auch andere Elemente der Natur, die die menschliche Aufmerksamkeit
beanspruchten. So hatte Cäsar behauptet, daß die Germanen lediglich
drei Gottheiten verehrt hätten: Die Sonne, den Mond und das Feuer
.
Rolf
Müller hat in seinem Werk „Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit"
in überzeugender Weise herausgearbeitet, daß die Beobachtung
von Sonne und Mond eine der wichtigsten Tätigkeiten der Menschen
des Megalithikums war, die durch die Bauweise megalithischer Ganggräber
und Steinkreise eindeutig dokumentiert werden.
Es
war dieses Interesse an der Natur, das aber auch weniger durch Romantik
als durch die Erkenntnis der tatsächlichen Wirkkräfte der Gestirne
auf das Leben der Erde geprägt war - die sinnliche Wahrnehmung ihres
Einflusses auf die Natur der Pflanzen, Tiere, des Meeres und des menschlichen
Organismus.
Entwickelten
sich in späterer Zeit Gottheiten, die in Gestalt menschlicher Personen
gedacht wurden, so blieben diese gebunden an die Beoabachtungen, die man
bei den Gestirnen gemacht hatte. So hatten sich Mythen von einem Mondgott
und einer Sonnengöttin entwickelt, wie ich das in meinen bisherigen
Vorträgen versucht habe, zu belegen.
Es
erscheint sinnvoll, einmal die Frage zu stellen, was eigentlich ein Gott
oder eine Göttin ist, und wie die verwirrende Vielfalt von Gottesbildern
in älteren Mythen zustande kommt.
Man
wird dann leicht feststellen, daß es meistens drei, oft auch vier
Elemente sind, die dabei in immer wieder neuen Variationen zusammen kommen:
1.
eine Elementarkraft der Natur
2.
ein Tier
3.
manchmal eine charakteristische Pflanze
4.
ein Typus des Menschlichen, wie der junge Held, der weise alte Mann, die
Mutter
5.
eine bestimmte gesellschaftliche Rolle, wie Krieger, Schmied, Sänger
oder Bauer
In
dem Maße, wie die Punkte vier und Fünf überwiegen, löst
sich eine Religion von der Natur, aber auch von der Realität und vom
Boden, spielt die Macht innerhalb einer Gemeinschaft die hauptsächliche
Rolle.
In
der alten volkstümlichen Religion Europas erscheint der Teufel, eine
vom Christentum verzerrte und gedemütigte Gestalt in Form eines Wesens,
das das Tierhafte mit dem Lunaren, und dies wiederum mit den überall
vorhandenen natürlichen Objekten der Steine und der Rolle des
Baumeisters verknüpft.
Er
ist durch die Sagen gebunden an bestimmte Punkte der Landschaft, die nach
wie vor unverrückbar sind und er erinnert uns an die gehörnten
Wesen, die im alteuropäischen Matriarchat eine so bedeutende Rolle
gespielt haben müssen.
Im
eddischen Mythos von Gefjon, der Göttin, die ihre Söhne in Stiere
verwandelt, ist dieser Nachhall des Tierischen in der Gestalt der Landschaft
noch lebendig, aber auch im eddischen Mythos der Urkuh Audumbla, die das
erste menschengestaltige Wesen aus dem Eis leckte.
In
diesem Bild vereinen sich tierische Stärke und deren geheimnisvolle
Beziehung zum nächtlichen Gestirn und die Zeugnisse der Aktivitäten
und menschlichen Nutzung dieser Stärke in jenen hochaufgetürmten
Steinmassen, die wir noch heute an allen Ecken und Enden unserer Landschaft
beobachten können.
Die
Geschichte des gehörnten Gottes, die bis in Goethes Faust und einen
großen Teil heutiger Jugendsubkultur ausstrahlt, ist lang.
Die
Faszination der Gestalt mag davon herrühren, daß ihre Personalität
noch festgegründet ist in dem alten Gestirnkult des Lunaren wie auch
in der wilden Ursprünglichkeit der Böcke und Hirsche
Wir
täten folglich gut daran, in unserer eigenen religiösen Annäherung
auf das zu bauen, was sinnlich wirklich ist und uns in der Wahrnehmung
der Grundzüge der Natur bestärkt: Der Erkenntnis der beständigen
Gegebenheiten in unserer Umgebung und ihren Wandlungsprozessen.
Stellen
wir uns also eine Reihe von Fragen für den Ort, an dem wir leben:
Wo
steht die nächste große alte Buche, die uns zum Ausdruck des
Weltganzen im kleinen wird ?
Wo
ist der nächste Fluß, dessen Fließen uns verdeutlicht,
daß Leben stete Bewegung ist ?
Wo
ist ein Punkt, an dem sich, wie auf Bergen, die Erde dem Himmel nähert,
wir uns dem Himmel und den Gestirnen nähern ?
Wo
aber auch ein Tal oder eine Senke, wo die Erde und wir mit uns zu sich
selber, zu unserer tiefsten Tiefe kommen ?
Wo
begegnen uns die Vögel des Himmels und die Tiere der Flur, die uns
selbst etwas zu sagen vermögen über die denkbaren Wurzeln
unserer eigenen Natur ?
All
diese Fragen, die uns ein lediglich beanspruchtes Territorium auch zu dem
machen, was man als Heimat bezeichnen könnte, bringen uns weiter.
Viel
weiter als die Frage nach einem höheren Wesen und seinen mutmaßlichen
Absichten uns gegenüber.
Wenn
wir dann auf neue Weise ein Bündnis mit der Natur geschlossen haben,
sind wir vielleicht auch berechtigt, mit den Worten auf sie zuzugehen,
wie sie ein Mensch im Island des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung
an sie richtete:
Heil
Tag !
Heil
Tagsöhne !
Heil
Nacht und nachtkind !
Mit
holden Augen
schaut
her auf uns
und
gebt uns Sitzenden Sieg !
Heil
Asen !
Heil
Asinnen !
Heil
fruchtschwere Flur !
Rat
und Rede
gebt
uns Ruhmreichen zwein
und
Heilkraft den Händen stets !
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