Die neuheidnische Bewegung im Deutschland der Gegenwart - eine religiöse
Alternative formiert sich

Wer heute die Esoteriksparte seiner örtlichen Buchhandlung durchstöbert, wird schnell auf Buchtitel stoßen, in denen von der "Göttin", den vier Elementen oder der "Harmonie mit der Natur" die Rede ist.

Diese Begriffe haben ihren Ausgang von einer Bewegung genommen, die seit dem Zeitalter der Romantik mehrere Sprachräume und Kulturräume in verschiedenen Wellen und Epochen geprägt hat.

Sie stehen in Verbindung mit der Vorstellung von einer Religiosität, die auf die Zeit vor der Verbreitung des Christentums in Europa zurückgeht.

Von den im Untergrund weiterwirkenden weisen Frauen, den Hexen, ist die Rede, von keltischen Druiden mit goldenen Sicheln, von axtschwingenden und metsaufenden Wikingern. Der Rückgriff auf vielfarbige historische Bilder geht teilweise hinab bis auf Epochen, aus denen wir keine Texte, ja nicht einmal Namen kennen: Das Zeitalter der Jäger und Sammler, die Ära der Höhlenmenschen.

All diese Bilder sind offenbar identitätsstiftend, denn sie werden zugleich in Verbindung gebracht mit den eigenen Vorfahren.

Die vielen tausend Männer und Frauen, die sich dieser Religiosität zugehörig fühlen, sind aber ein recht buntscheckiger Haufen - sie sind keineswegs monolithisch organisiert, ja z.T. überhaupt keiner Gruppe zugehörig, z.T. ausgesprochene Einzelgänger.

Man kann dennoch eine Reihe von Strömungen und Grundtendenzen ausmachen, die das Bild der heidnischen Bewegung prägen.

Da ist zum Einen die große Differenz zwischen den Traditionalisten und den Kreativen. Unter "Traditionalisten" verstehe ich in diesem Zusammenhang Menschen, die alte germanische Bräuche, Riten, Symbole (z.B. die Runen) und Texte (z.B. die Edda) erforschen und versuchen, sie in der heutigen Zeit nachzugestalten und nachzuerleben.
Schon um die Jahrhundertwende bis in die Dreißiger und Vierziger Jahre gab es in Deutschland Menschen, die das praktizierten - und seit den Siebziger Jahren lebte auch in England und den USA eine solche "neugermanische" Bewegung auf, die dann in den Achtzigern auch nach Deutschland überschwappte.

Die keltischen Druiden und die vielgestaltige keltische Mythologie waren bereits im vergangenen Jahrhundert in England und Frankreich populär. In jenen Gebieten, die früher von Kelten besiedelt waren, nämlich Österreich und Süddeutschland, verbreitete sich das Interesse an keltischer Religiosität in den Siebziger Jahren: Waren doch die Germanen durch den nationalsozialistischen Mißbrauch weitgehend diskreditiert.

Vielfach knüpft sich das Interesse an Kelten und Germanen an die Aufmerksamkeit, die bestimmte regionale Kultstätten auf sich ziehen - man denke an Stonehenge, die Externsteine oder die vielen "Druidensteine" im Gebiet der fränkischen Schweiz.

Die Informationen in alten Chroniken, antiken Schriftstellern oder mittelalterlichen Dokumenten sind vielschichtig - aber auch sehr lückenhaft.
Für den Bereich der Germanen gibt es z.B. die isländische Literatur des Mittelalters, oder es gibt die "Germania" des Tacitus. Für die Kelten sind z.B. die "vier Zweige des Mabinogion" bekannt, die von den britischen Inseln stammen.

Was die Überlieferung nicht an Informationen hergibt, wird durch andere, z.T. zwielichtige Quellen ergänzt: Durch "Erberinnerung", Intuition, "Offenbarungen" von Autoritätspersonen (die sich gern mit Priestertiteln wie "Oberdruide" oder dem altnordischen "God!" schmücken) aber auch künstlerischem Einfühlungsvermögen. Letzteres gilt vor allem für Rituale. Man muß kritisch bemerken, daß derartige Formen neuzeitlicher Kreativität oft als historisch authentisch dargestellt werden: Hier ist die Nahtstelle zwischen religiöser Kreativität und sektiererischer Scharlatanerie.

Gemeinsam ist sowohl keltischer als auch germanischer Religiosität, daß die Existenz einer Vielzahl von Göttern und Göttinnen vorrausgesetzt wird. Diese Gottheiten stehen durch bestimmte Famillenclans oder Sippen in einem komplexen Beziehungsgeflecht miteinander.

Sie beanpruchen keine Allmacht, beeinflussen sich gegenseitig, können auch vom Menschen durch Opfer, Beschwörungen, Orakel und Meditationen angegangen werden.

Sie sind Widerspiegelungen bestimmter Rollen und Grundgestalten jener archalschen indogermanischen Stammesgesellschaften, die es vor ungefähr 1000 Jahren in Europa noch tatsächlich gab. Sie sind aber auch die Widerspiegelung von Naturkräften oder heiligen Pflanzen und Tieren aus der Zeit des Totemismus.

All diese Bedeutungszusammenhänge versuchen heutige germanische und keltische Helden, wieder in ihr individuelles Bewußtsein zu bringen - oft ohne zu beachten, daß hierfür die sozialen und lebensweltlichen Grundlagen fehlen.

Positiv kann man bemerken, daß sich Lebenslust und Lebensbejahung als
Grundstimmung dieser alten Religionen im Bewußtsein ihrer modernen Anhänger
niederschlagen - Dies ist auch einer der stärksten Kontrapunkte dieser Bewegung
gegenüber der Sündenphilosophie und Erlösungssehnsucht des Christentums.
Ein Riß geht durch das traditionalistische Neuheidentum in politischer Hinsicht:
Zahlreiche Gruppen, die insbesondere ein Faible für das Germanische haben,
verknüpfen den Begriff "Religion der Ahnen" mit einer rassistisch geprägten Idee
eines "arischen" oder "nordischen" Germanentums, das nur für Träger besonderer
Gene reserviert sei.

Die Ideologie jener Gruppen, bei denen es sich in Deutschland vor allem um den "Armanenorden" und die "Artgemeinschaft" handelt, läßt sich direkt zurückverfolgen in das Dritte Reich. Ihre Protagonisten, die Ariosophen Guido List und Lanz Liebenfels oder der "Rassenpapst" des dritten Reiches, H.F.K. Günther wirkten auch schon vor 1933. Aber ihre Ansätze wurden z.B. von Heinrich Himmler oder Alfred Rosenberg aufgegriffen.

Dennoch sollte man germanische Gruppen nicht leichtfertig als rassistisch apostrophieren. Die amerikanische Asatru-Bewegung, die sich seit den Achtziger Jahren bei uns verbreitet hat, ist eine Kulturbewegung, die germanischer Symbolik ohne rassistische Hintergedanken nachgeht.

Für den größten Teil der keitisch-druidischen Gruppen zumal in England oder Frankreich gilt das Gleiche.
Ein anderer großer Bereich des Neuheidentums läßt sich umschreiben als "Hexenkult". Er entstand in den Dreißiger Jahren in England und stellt eine Synthese ritualmagischer Praktiken, tantrischer Ideen und keltischer Folklore dar.

Den Hintergrund lieferte die gigantische reilgionsgeschichtliche Arbeit "Der Goldene Zweig" von James George Frazer, der schon um die Jahrhundertwende mit einem universalen Mythos versuchte, die verschiedensten Religionen und Kulte einheitlich zu interpretieren: Er sah überall eine Große Göttin in Verbindung mit einem männlichen Fruchtbarkeitsdämon oder Gott am Wirken. Diese Dualität wurde der Ausgangspunkt des göttlichen Paares von Göttin und Gott, wobei sich die Göttin als Gebärende, der Gott als sterbender und immer wiederkehrender Genius im Kreislauf des Jahres begegnen und ergänzen.

Die Bewegung des Hexenkults hat sich in den Sechziger bis Achtziger Jahren in drei Variationen aufgefächert, die man als traditionellen Kult ("Wicca" = von engl. Witch = Hexe), in den unorthodoxen Kult der "Freifliegenden Hexen" und in den feministischen Hexenkult gliedern kann.

Gemeinsam ist allen drei Strömungen, das sie organisatorisch in kleinen privaten Zirkeln arbeiten, was allerdings nicht unbedingt ein elitäres Bewußtsein und Guruismus einzelner Persönlichkeiten ausschließt.

Bedeutende Exponenten des traditionellen Wicca sind etwa Vivianne Crowley in England, eine jungianische Psychotherapeutin oder das Waliser Ehepaar Janet und Stewart Farrar. Wicca hat wiederum viele Varianten, obwohl zahlreiche Wiecas zu geheimbündlerischer Exklusivität und buchstabengetreuer Beachtung überlieferter Riten tendieren.

Die "freifliegenden" Hexen, die z.B. durch "Starhawk" (die US-amerikanische Therapeutin Miriam Sirnos) repräsentiert werden, zeichnen sich durch ein eher synkretistisches Interesse für alle möglichen Mythen und Gottheiten aus, weiche sie mit der Symbolik des göttlichen Paars und der acht Jahresfeste verknüpfen. Hier besteht die Freiheit, Rituale so zu gestalten, wie man sie als passend und angenehm empfindet. Zahlreiche andere Elemente wie der Schamanismus, Yoga oder neuzeitliche Psychotechniken werden in den Kult integriert.

Eine teilweise unkritische Benutzung okkultistischer Praktiken fällt ins Auge - ganz zu schweigen von dem Fehlen eines weltanschaulich-philosophischen Unterbaus.

Der feministische Hexenkult, der z.T. von Bachofens Matriarchatstheorien geprägt bzw. hergeleitet ist, hat eine enorme Bedeutung durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Frauenbewegung gewonnen. Seine Ausläufer erstrecken sich mit der feministischen Theologie mittlerweile bis hinein in beide große Kirchen. Steht hier die Idee, Gott könnte auch eine Frau sein, im Mittelpunkt, ist es in feministischen Hexen-Coven die Gestalt der Großen Göttin. Sie wird entweder allein oder mit einem Gott als untergeordnetem Gefährten verehrt.

Die feministischen Hexen haben viel für das erstarkende Selbstbewußtsein der Frauen geleistet - auch wenn sie sich z.T. durch eine unkritische Zurückdatierung ihrer Religion bis in die Zeit der ersten Jäger auf unsicheres Gelände begeben. Allerdings hat eine Vertreterin dieser Bewegung, die Philosophin Heide Göttner-Abendroth, auch die feministische Ideengeschichte kritisch untersucht.
Das Ergebnis der feministischen Geschichtskritik ist allemal nicht von der Hand zu weisen, daß der pathologische Frauenhaß der monotheistischen Religionen korrekturbedürftig ist, und von ihren Vertretern aufgearbeitet werden muß.

Als Fazit würde ich betrachten, daß die neuheidnische Bewegung mit ihrem neuen Verständnis der Rolle der Geschlechter und mit ihrem religiös verstandenen Interesse an der Natur auf dem richtigen Wege ist.

Wenn sie ein ernsthaftes philosophisches Fundament begründen und sich Gedanken über eine neue Ethik machen würde, sowie gewisse Formen okkultistischen Aberglaubens überwinden könnte, wäre sie für viele Suchende noch attraktiver.

Matthias Wenger