Das Geschlecht der 
Gestirne - Mutter Sonne 
und Vater Mond in den prähistorischen Mysterien

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Ich habe es erneut unternommen, über die  geschlechtliche Bewertung von Sonne und Mond in urälteste Mythen hinabzusteigen, um daraus etwas Bedeutungsvolles für unsere Gegenwart zu erlangen.
Worin aber sollte diese Bedeutung bestehen, wo doch die Kulturen, die jene Mythen hervorbrachten, längst vergangen sind ?
1. Die Mythen alter Naturvölker wie der Balten, der Japaner, der Inder, der Ozeanier und Germanen etc. sagen etwas aus über ein Problem, an dem wir in unserer heutigen westlichen Zivilisation schon längere Zeit ergebnislos herumdiskutieren in  einem Übermaß an politischer Ideologie. Ich spreche von der Wesensbedeutung des Männlichen und Weiblichen. Während der Kirchenvater Tertullian die Frau als "Einfallspforte des Teufels" (Deschner, S. 209) diffamiert, dreht die Feministin Heide Göttner-Abendroth den Spieß um hundertachtzig Grad, indem sie dem Mann allein Erlösung zuspricht, wenn er von der Frau vermenschlicht werde (s. ihr Buch "Die Göttin und ihr Heros").
Diesen reaktiven Pendelschlägen im Verhältnis zwischen einem mehrtausendjährigen Matriarchat und einem ebenso hartnäckigen Patriarchat steht das entgegen, was ich als ein prähistorisches Androgynat bezeichnen würde.
Zu erkennen, daß das Männliche und das Weibliche jeweils eine besondere eigenständige Bedeutung im Gesamtgefüge des kosmischen Lebens haben, wäre ein Schritt in eine sinnvolle Zukunft, wie es z.B. Riane Eisler in Ihrem Buch "Kelch und Schwert" propagiert. Uralte Mythen, die meines Erachtens schon in der animistischen Jäger-Kultur vergangener Jahrzehntausende verwurzelt sind, können uns diesen Weg weisen.
Wir wären dann nämlich in der Lage, von den Stereotypien des Geschlechtlichen wegzukommen, welche die Männlichkeit mit  säbelrasselnder Grobheit , das Weibliche hingegen mit hausmütterlicher Enge und Demut in eins setzen.
2. Ein weiterer Vorteil dieser Studien besteht darin, daß sie uns wegbringen von der Idee, daß Gegensätzlichkeit die Konkurrenz zweier Prinzipien mit dem Ziel der Unterwerfung eines Prinzips unter das andere oder seine letztendliche Auslöschung sei. Diese Idee, wie sie in unserer Zeit vom monotheistischen Despotismus gepflegt wird, hat uns bis jetzt nichts gebracht, als einen Weg zur Vernichtung unseres Heimatplaneten zu eröffnen.
In der alten Sichtweise der Dinge erblicke ich aber eine Möglichkeit, in den Gegensätzen sich ergänzende Teile eines sinnvollen Ganzen zu erblicken.
3. Eine weitere Sinnbedeutung dieser Arbeit liegt in der sinnlichen Bedeutung der astralen Mythen schlechthin. Viele alte Mythen, die sich auf vergangene Gebräuche beziehen, bleiben uns in ihrer wahren Bedeutung verschlossen, weil sie auf bäuerlichen, kriegerischen und handwerklichen Gegebenheiten beruhen, die wir in unserer hochtechnologischen Epoche nicht mehr nachvollziehen können. Die Gegenwart der Gestirne von Sonne und Mond hingegen verkörpert etwas Ewiges und Überzeitliches, zu dem wir unsere Augen erheben können, ohne von der als fremd empfundenen modernen Welt völlig absorbiert zu werden. Diese Gestirne fesseln unsere Aufmerksamkeit im ursprünglichen animistischen Sinne als reale Gegenstände einer realen Welt, deren Wahrnehmung keiner sekundären Darstellung im Sinne einer Verschlüsselung oder Symbolifikation bedürfte.
In meinem Vortrag im Jahre 1996 hatte ich, anknüpfend an ein Kptl. in meinem Buch von 1994 den Nachweis zu führen versucht, daß die neuheidnische Vision einer weiblichen Mondgottheit und einer männlichen Sonnengottheit im Widerspruch zu früheren, universell verbreiteten Astralmythen steht.
Nunmehr möchte ich über den rein deskriptiven Rahmen hinausgehend diese alten Vorstellungen mit Leben erfüllen, indem ich etwas über das innere Wesen dieser Gestirnsgottheiten anhand der Quellen sage.

Sonne und Mond in ihrer Beziehung zueinander

Betrachten wir also zunächst das Verhältnis von Sonne und Mond im Sinne ihres Verwandschaftsgrades.
In der jüngeren Edda (Gylfaginning) sind Mani (Mond) und Sol (Sonne) als Geschwister Kinder eines Vaters namens Mundilföri. Auch im Reginsmal 23 wird die Sonnne Schwester des Mondes genannt (v. Nemenyi, S.7), in der Völuspa ist die Sonne "des Mondes Gesellin". In einem Eskimo-Mythos wie auch bei den Cherokee sind die beiden ebenfalls Bruder und Schwester (s. Hetmann, S. 149 u. Kaiser, S. 63). So auch bei den Sorben (Nedo, S. 106).
In den japanischen Mythen vom Weltanfang gehen die Sonnengöttin Amaterasu undd der Mondgott Tsuki-Yomi aus dem linken und rechten Auge des Urmenschen Izanagi hervor (Bellinger, S. 323).
In welcher Beziehung zueinander werden nun diese Geschwister geschildert ? In dem Cherokee- und in dem Eskimo-Mythos sind Sonne und Mond Liebhaber, die sich aber zunächst  nicht ihrer wahren Identität bewußt sind. Deren Aufdeckung ist zunächst mit Entsetzen und Fluchtbedürfnis verbunden. Aber es ist klar, daß die uralte Idee einer inzestuösen Geschwisterehe die Erinnerung an etwas einstmals Sinnvolles bewahrt, was in matriarchalischen Zeiten üblich war. Die neuere Überlieferung offenbart einen Zwiespalt zwischen dem, was einmal wichtig und heilig war und später nicht mehr sein durfte: in den genannten beiden Mythen ist der männliche Mond ein Verborgener, Unbekannter, der aber durch das Bestreichen mit Ruß identifiziert werden kann. Einen solchen Anhaltspunkt für die gezielteVerfinsterung des Mondes bietet auch das estnische Märchen "Die Färber des Mondes", in welchem der Teufel einen Helfer zum Mond emporsteigen läßt, der diesen mit Teer verfärbt (Löwis of Menar, S.241 ff.). Die bewußte Verdunklung bzw. Verbergung des Mondlichtes wird in der estnischen Volksüberlieferung als Affront des Teufels gegen einen als "Altvater" bezeichneten Urgott dargestellt.
Die Verborgenheit des Männlichen kommt auch in dem sorbischen Volksmärchen von Pan Hibschik zum Ausdruck, der tagsüber in einer Schweinehaut umhergeht, und seine Schönheit nur des Nachts zeigen kann (Nedo, S. 102). Nachdem seine Frau diese Schweinehaut verbrannt hat, flüchtet er. Sie aber gewinnnt ihn wieder zurück, indem sie mithilfe eines Kleides von "Mütterchen Sonne" schön wie die Sonne selbst in Erscheinung treten kann. Die Beziehung von Sonne und Mond als Gattin und Gatte wird auch in der litauischen Überlieferung deutlich, wo die Sonnengöttin Saule als Sonenjungfrau den Mondgott Meness auf dem Himmelsberge in ihrem golden funkelnden Brautgewand erwartet (Haussig, S.173). Auch in der hinduistischen Überlieferung wird in einem Hochzeitszeremoniell die Vereinigung der Sonnengöttin Surya mit dem Mondgott Soma geschildert (Mylius, S. 60). Der Unterschied zwischen der lettischen und altindischen Überlieferung im Verhältnis zu den Cherokee- und Eskimo-Mythen besteht aber darin, daß Sonne und Mond nicht mehr  Geschwister genannt werden. Zumindest wissen wir aus der eddischen Überlieferung über das Göttergeschlecht der Wanen und die Geschichte von Sol und Mani, daß Geschwisterlichkeit von Sonne und Mond sowie die Geschwisterhehe bei den Germanen als indoeuropäischer Kultur bekannt waren (Denken wir an die Beziehung von Freyr und Freya !).
Am prägnantesten wird die Beziehung zwischen Sonne und Mond von Plutarch ausgedrückt, der in seinem Mondgesicht schreibt: "Auch das ständige Kreisen des Mondes selbst geschehe aus Liebesdrang zur Sonne; Selene vereine sich mit Helios in dem Verlangen, seine Zeugungskraft zu empfangen" (S. 71). Am mysteriösesten wird die Verbindung, Verschmelzung und Synthese beider Gottheiten in dem spätmittelalterlichen Bildgedicht von Sol und Luna dargestellt, das eine Hauptquelle jungianischer Spekulationen zu den Gedankengänngen der Alchemie bildet.
All dies sind aber schließlich Hinweise auf eine uralte Vorstellung von einer Einheit und möglichen Einswerdung der Unterschiede, welche dem Gedanken einer Vorherrschaft des jeweils Weiblichen oder Männlichen entgegenstehen.
Worin aber können wir nun die entscheidenden Charakteristika dieser beiden astralen Gottheiten erkennen ?

Vom Wesen der Sonnengöttin

Was das Wesen der Sonnengöttin ausmacht,  liegen sie im Grunde in dem Prinzip der zentral ausstrahlenden Wärme und des wärmespendenden Feuers einerseits. "Zentral ausstrahlend" bedeutet, daß das Solare eine Funktion als Mittelpunkt im Sinne eines Lebenskerns des kosmischen Lebens hat. Das Lunare hingegen gilt als peripher, zyklisch, d.h. zwischen Verborgenheit und Offenbarwerden sich bewegend und zugleich gekennzeichnet vom Prinzip der Feuchtigkeit.
Wir würden einen groben Fehler machen, wenn wir dieses Gegensatzpaar nur in den Kategorien von "mütterlicher Wärme" und "zeugender Nässe" fassen würden. Dies ist eine seiner Ausdrucksmöglichkeiten, aber eben nur eine, die sich auf den regenerativen Bereich bezieht.
In der Tat ist diese Zuordnung allein eine für die okkult-hermetischen Kategorien der Neuzeit erstaunliche Neuerung. Die klassische Verbindung des Männlichen mit dem Feuer und des Weiblichen mit dem Wasser unterliegt hier einer Umgestaltung.
In  welchen mythischen Gestalten kommt nun das Prinzip der zentralen Lebenswärme symbolisch zum Ausdruck ? Beginnen wir gleich wieder mit der germanischen Überlieferung, die im isländischen Runenlied aus dem 15. Jhdt. (s. Reiß,  S.17 u. v. Nemenyi, Heft 15,  S. 7) die Sonne als "der Eismassen Mörder" umschreibt. Aus dem Schmelzen des Eises aber erwächst Leben, wie der eddische Schöpfungsmythos beschreibt: Die Urkuh Audhumbla leckt den Urmenschen Buri aus dem Eis hervor, womit sie den Prozeß der Schöpfung der menschengestaltigen Urgötter in Bewegung setzt. Aus dem ägyptischen Hathor- und dem griechischen Herakult sowie der hinduistischen Verehrung der Kuh wissen wir, daß die idee einer kuhgestaltigen Himmelsgotthit als nährender mütterlicher Kraft uralt ist. In einem  altägyptischen Hymnus an Hathor heißt es: " Wie schön glüht die Goldene, blüht die Goldene, strahlend und blühend...". Hathor trägt auf ihren Kultbildern die Sonnenscheibe zwischen ihren Hörnern.
 

In der altindischen Hochzeitszeremonie zwischen Surya und Soma wird ebenfalls die Beziehung zwischen der wärmenden Qualität des Feuers und der lebenspendenden Fruchtbarkeit hergestellt:

"Hier soll Dir Liebes durch Nachkommenschaft zuteil werden.
In diesem Hause wache über das Hausfeuer!
Mit diesem Gatten vereine den Körper!
Noch als zwei greise Leute sollt Ihr zur Opferversammlung sprechen."
(Mylius, S. 63)

Die japanische Sonnengöttin Amaterasu steht für die Kultivierung des Reisanbaus, während die litauische Saule die Kornfelder segnet, die sie bei der Sommersonnenwende umschreitet. Sie selbst hat nach der Überlieferung auf dem Himmelsberg ihre eigenen Felder und waltet dort als Bäuerin. es sind also Licht und Wärme als Wachstumskraft, die der Sonne hier zugesprochen werden. Auch in dem sorbischen Märchen von Pan Hibschik sieht es die Sonne als ihre Aufgabe an, die Erde zu erwärmen.
Die Überlieferung zur SOL-Rune betont die Bedeutung des Schutzes vor Dunkelheit und Verwundung und ihre Rolle bei der Orientierung der Seefahrer.

In verschiedenen Überlieferungen wird das zyklische im Wesen der Sonne, ihre Verborgenheit und neues Hervortreten sehr unterschiedlich symbolisiert: In der japanischen Tradition verwüstet der Sturmgott Susa-No-o ihre Reispflanzungen, so daß sich Amaterasu in ihre Felsenwohnung zurückzieht. Nun ist die Welt erfüllt von Finsternis. Erst durch einen ekstastischen Kulttanz einer anderen Göttin und das damit verbundene Lachen der Götter fühlt sich die Sonnengöttin genötigt, wieder hervorzukommen. Das Interessante an dieser Geschichte besteht darin, daß sie einen Mythos und einen dazu passenden Ritus gleichermaßen wiedergibt.


Archäologischer Beleg für eine altjemenitische Sonnengöttin

In der altnordischen Überlieferung werden  Sonne und Mond am Ende der Zeiten von Wölfen verschlungen, die eine Riesin hervorgebracht hat.  Aber die Sonne hat noch zuvor eine Tochter geboren, die selbst nach dem Untergang der anderen Götter weiterlebt ! (s. das Vafthrudnismal der Älteren Edda). Allein dieser Passus zeigt die Bedeutung jener Göttin und ihre Position im Verhältnis zu den späteren Göttergeschlechtern !
 In verschiedenen alten Darstellungen zeigt sich die Vorstellung von der zentralen Bedeutung des Solaren für die dem menschlichen Körper innewohnende Lebenskraft.



Die Erscheinung des Mondgottes

Die Problematik des Mondgottes, wie er sich dabei in den verschiedensten Überlieferungen zeigt, besteht vor allem in der Vielgestaltigkeit des Lunaren selbst. Der Mond hat in seinem himmlischen Erscheinungsbild die unterschiedlichsten Formen, von der Sichel über die Eiform bis hin zum vollendeten Kreis. Zugleich gibt es schnell wechselnde Zeiten, an denen er gar nicht sichtbar ist. Und nur dem sehr Kundigen ergibt sich ein System der Aufklärung darüber, warum der Mond einmal an dieser, ein andermal an jener Stelle des Himmelsrandes erscheint.

Dabei ergeben sich nun aber auch die verschiedensten Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Gottesbildern, kultischen Symbolen und Funktionen. Dabei müssen wir immer im Auge behalten, daß die allgemeine Erfahrung des Lunaren in der archaischen Lebenspraxis die Beziehung des Mondes zum Flüssigen in kurzen Rhythmen zum Gegenstand hat. Das ergibt sich sowohl beim Wachstum der Pflanzen als auch bei der weiblichen Menstruation.
Johann Jakob Bachofen, der in seinem "Mutterrecht" eine Reihe alter Vorstellungen von Fruchtbarkeit und Zeugung erörtert, stellt uns z.B. Theseus als Sohn Poseidons im Sinne einer Zeugungskraft tellurischer Natur vor, die den Erdgewässern innewohnt (Bachofen, S. 194 f.). In Anlehnung an Plutarch schreibt Bachofen, diesen zitierend: "Das alljährlich von dem Strome überschwemmte Land erscheint als der Mutterleib, der Fluß selbst als der Sitz der befruchtenden männlichen Kraft, das Austreten des Wassers als der Akt der Begattung beider Potenzen. Wie des Mannes Same von dem Weibe aufgenommen wird, so verliert sich des Stromes Flut in der Erde Schoß, welcher sie in sich aufnimmt und mit ihr den Keim der Befruchtung erhält. "Daher betrachteten die Theologen" sagt Plutarch (De placit. philos. I,6), "den Himmel als einen Vater, die Erde als eine Mutter. Der Himmel war ihnen Vater, weil die Ausgießung der Wasser für einen Samen galt; die Erde war Mutter, weil sie durch die Wasser befeuchtet wurde und gebar". "
All jene Gottheiten, die mit dem Lunaren in Verbindung stehen, haben eine Reihe von Fähigkeiten:
Sie haben eine androgyne Funktion, die ihnen eine besondere Bedeutung bei der Urzeugung verschiedener, meist drei verschiedener Menschentypen zuspricht. Sowohl der biblische Noah, der germanische Mannus als auch der nordische Heimdall bringen diese drei Stämme, Stände oder Völker hervor. der altnordische Riese Bergelmir tritt als Überlebender einer Urflut auf, die mit dem Tod des Urriesen Ymir und der Machtergreifung der drei Urgötter Odin, Wili und We einhergeht. Der Gott des indischen Urweisen Manu ergießt seine Kraft in die von ihm geschaffenen Wasser, daraus entsteht ein goldenes Ei, in dem er selbst geboren wird. (s. Renou, S.148ff.). Manu selbst verrichtet das Paka-Opfer, bei dem Butter und Milch ins Wasser gegossen wird. Daraus entstand innerhalb eines Jahres ein Weib (Glasenapp, S. 31).
 
 




Diese Urschöpfung des Menschen geht  meist auf eine urzeitliche Flut zurück, die von Gottheiten verursacht werden, die sich jenen Stammvätern offenbaren. Der Gott im Gesetzbuch des Manu heißt Narayana, d.h. "derjenige, der sich in den Wassern bewegt" (Renou, S. 148ff.). Demzufolge wird der indische Manu auch von einem sprechenden Fisch vor der Großen Flut gewarnt, welcher von Manu gerettet wird und anschließend immer größer und größer wird.  Der germanische Stammvater Mannus ist Sohn des erdentsprossenen Gottes Tuisko, den Simek mit dem androgynen Urriesen Ymir identifiziert.  Ymirs Tötung durch die drei Urgötter aber bewirkt die Entstehung des Weltmeeres, das aus seinem Blut entsteht. Der Gott des Noah verursacht die Sintflut, indem er Wasser vom Himmel und aus den Tiefen der Erde dringen läßt (Mose 7, Vers 11). Der Gott EA oder ENKI, der den sumerischen Utnapischtim vor der großen Flut warnt, ist Herr über das Wasser unter der Erde wie auch über dem Himmel (s. Bellinger, S. 125). Der altnordische Gott Heimdall ist in seiner Funktion als Wächter der Götter auch Herr über die Brücke zu den Göttern, den Regenbogen, dessen Beziehung zum "himmlischen Wasser" den Germanen nicht verborgen geblieben sein wird.
An diesem Punkt ist es auch nicht uninteressant, daran zu denken, daß sowohl in der germanischen Mythologie der Gott Njörd das Meer repräsentierte, während es in der Antike der Gott Neptun/Poseidon  war.
Zwei Sinnbilder sind es, die für die Verdeutlichung der Wasser-Symbolik stehen: Nämlich einmal das Horn und zum andern das Schiff.
Während  das Horn als Attribut eines Tieres auf die gehörnten Gottheiten verweist, hat es aber zugleich auch eine Bedeutung als Musik- und Signalinstrument sowie als Trinkgefäß. Das Gehörn als Verkörperung der Mondsichelsymbolik würde bedeuten, daß alle gehörnten Gottheiten mehr oder weniger lunaren Charakter haben. Dies würde auch schlagartig den Sinn der Fruchtbarkeits- und Phalluskulte verdeutlichen, welche mit den bocks- und stiergestaltigen Gottheiten verbunden sind.
Ein interessantes Beispiel bietet eine Hymne aus dem zoroastrischen Zend-Avesta an den Mond: Er wird dort immer wieder als der genannt, der den "Samen des Stiers in sich trägt".
Der Gott Heimdall hat, wie es in der Edda heißt, sein Horn, das Gjallarhorn, unter der Weltenesche Yggdrasil verborgen.  Es ist jenes Horn, mit dem er die Götter vor den heranstürmenden Riesen warnt. Aber das gleiche Horn gehörte auch dem Urriesen Mimir, mit dem jener Weisheit aus einer Quelle trank. Heimdalls Name bedeutet möglicherweise "der die Welt beleuchtet" (Simek, S.165). Simek erwähnt auch Heimdalls Interpretation als widdergestaltiger Gott, da Widder eines seiner Synonyme in der Skaldendichtiung ist. Sein Schwert heißt "Höfud" = Menschenkopf. Mimirs Kopf wird von Odin, der sein eines Auge für Weisheit aus dem Mimirsquell opferte, für Beschwörungen benutzt. Der Vollmond als Kopf eines Gottes, der vom Himmel auf die Erde hinunterschaut, ist eine bekannte Assoziation im Voksglauben.
Bei der Symbolik des Horns müssen wir bedenken, daß das nach links gewendete Horn als Kennzeichen des zunehmenden Mondes auftritt, während das nach rechts gewendete in Verbindung mit dem abnehmenden Mond erkennbar wird. Ich meine, daß sich daran Bedeutungen knüpfen, die der feinen Beobachtungsgabe des mit der Natur lebenden Menschen nicht gleichgültig sein konnten.
Gibt es doch immerhin zwei Kategorien gehörnter Wesen: Einmal Tiere, die auch in mythischen Darstellungen ganz naturalistisch als Tiere gezeigt werden und andererseits menschengestaltige Wesen, die Hörner tragen. Man denke hier auch an die Doppeldeutigkeit des Attributes "geweiht". Handelt es hier um mit einem Geweih versehene, die diesen Kopfschmuck erlangen konnten, nachdem sie sich einem rituellen Vorgang unterworfen haben ?

Auch das Schiff ist eine allerdings vor allem in südlicheren Breiten, wo sich die Mondsichel mehr zur Waagerechten neigt, klare Verschlüsselung der Mondsymbolik.
Die Arche, das Schiff des Manu, der Mahlkasten, mit dem sich Bergelmir vor der Flut rettet, ebenso wie die Schiffsgräber der Wikinger und die "Kirchenschiffe" der Gotik offenbaren eine Bedeutung, bei der es darum geht, die Seelen der Menschen und Tiere zu bewahren, aus denen ihre Körper neu hervorgehen können. Denn letztendlich ist dieses Schiff identisch mit dem Totenschiff, in dem der himmlische Fährmann die Seelen über den Totenfluß oder das Totenmeer hinüber in die andere Welt bringt: jene Welt, aus der heraus sie wiedergeboren werden. Der griechische Charon, der Odin des Harbardsliodh der Älteren Edda wie auch der Mythos von Avalon weisen hin auf die alte Vorstellung, daß man über ein Wasser setzen müsse, um in das jenseitige Reich zu gelangen.
Daß all jene Beschreibungen von Schiffen und Fluten sinnbildlich-mythologischen und keinerlei historischen Charakter haben, verdeutlicht die Schilderung über das Schicksal Manus. In einem Brahmana-Text heißt es dazu: "....als die Flut sich erhob, bestieg er das Schiff; der Fisch schwamm zu ihm heran, an dessen Horn band er (Manu) das Tau des Schiffes, damit setzte er (der Fisch), über diesen nördlichen Berg.- Er sprach: "Ich habe dich gerettet: binde das Schiff an einen Baum, damit dich nicht, ob du auch auf dem Berge bist, das Wasser fortspült: wenn das Wasser allmählich fallen mag, dann magst Du auch allmählich hinabsteigen" (Glasenapp, S. 30f.). Sowohl bei Manu als auch in der Geschichte von Noah taucht der heilige Berg auf, an dem das (Mond)-Schiff schließlich sein Ziel erreicht hat. Dieser Berg ist natürlich nichts anderes als der Himmelsberg, auf dem sich nach der litauischen Überlieferung Sonnengöttin und Mondgott begegnen ! Die Überlieferung des Manu kennt auch den heiligen Weltbaum auf dem Himmelsberg. Der Mond in Verbindung mit dem Mondbaum ist gleichfalls eine uralte Vorstellung, was am besten in dem Grimmschen Märchen Nr.175, "Der Mond" verdeutlicht wird, wo sich der Mond auf einem Eichbaum befindet. Die Eiche ist in allen indoeuropäischen Mythen dem Himmels- und Donnergott geweiht, der bei den Germanen (Thor) als auch bei den Indern (Parjanya) Gott des himmlischen Wassers und des Regens ist (s. zahlreiche Abbildungen des Mondbaums bei Harding, S. 205).
In dem estnischen Märchen "Die Färber des Mondes" treten gleich mehrere der schon genannten Sinnbilder in Aktion: Der Teufel (als gehörnter Gott !)bzw. sein Knecht steigen hier auf sieben aneinandergebundenen Leitern zum Mond empor, wobei von "Leiterbäumen" die Rede ist (Löwis of Menar, S. 244). Der Teufelsknecht wird von "Altvater" zur Strafe für seine Verschmutzung des Mondes durch Teer für ewige Zeiten in den Mond verbannt, so daß man auch heute noch einen Mann mit Teereimer im Mond sehen könne.
Der Mondgott ist also nach all diesen Vorstellungen Hüter der Schwelle, Seelengeleiter und Totengott, der die Seelen in ein anderes Reich führt, aus dem sie wiedergeboren werden. Aber diese Wiedergeburt ist natürlich nur möglich durch Fruchtbarkeit und Fülle des wäßrigen Prinzips - in Verbindung mit der solaren Wärme und Lebenskraft.
Die altindische Kaushitaki-Upanishad faß es lapidar so zusammen: "Die, die auch immer wahrlich aus dieser Welt fortgehen, alle diese gehen zum Mond. Durch deren Lebenshauche schwillt er in der ersten Monatshälfte an, und durch die zweite Monatshälfte läßt er sie wieder geboren werden." (Ruben, S. 261f.)
In dem Grimmschen Märchen "Der Mond" wird die Seelensubstanz der Menschen gleichfalls in Beziehung gesetzt zur Substanz des Mondes. Das heißt, der Mond wird nicht als ein einheitlicher Körper gedacht, sondern als ein aus der Seelensubstanz vieler Menschen zusammengesetzter Körper, dessen Leuchtkraft Ausdruck des kollektiven menschlichen Seelenlichtes ist. In dem Grimmschen Märchen gehört der Mond vier Männern. Bei dem Tode jedes Einzelnen wird ihm jeweils ein Viertel des Mondes ins Grab mitgegeben. Als alle gestorben sind, leuchtet der Mond in der Unterwelt, wo er die Toten erweckt ! Was aber besagt diese Vorstellung ? Wenn der Mond am Nachthimmel verschwunden ist, also Neumond herrscht, bestand also die Vermutung, daß er sich nun unter der Erde aufhalte. Das dortige Erwachen der Toten in der Erde würde dann einen neuen Zyklus des Aufstiegs der Toten zum Himmel in Gang setzen, was wiederum die Zunahme des Mondes bewirken würde (s. oben in der Kaushitaki-Upanishad !).
Neben dieser altindischen und quasi alt-deutschen (vielleicht germanischen ?) Quelle wird es uns nicht mehr überraschen, ähnliche Vorstellungen auch in der heidnischen Antike wiederzufinden, nämlich bei Plutarch (46 -120), der uns in seiner Schrift "Das Mondgesicht" nicht nur vom Mond als Aufenthalts- und Läuterungsort der Toten berichtet. Er schreibt auch: "Der Mond ist, wie schon gesagt, der Grundstoff der Seelen. Sie lösen sich in ihn auf, wie Leichen in die Erde....Das geht bei den Zuchtvollen rasch,....sie vergehen, wenn der Geist sie verläßt und ihre Leidenschaften kein Ziel mehr haben. Die Seelen der Ehrgeizigen dagegen...schweifen zum Teil umher wie im Schlaf, und die Erinnerung an das Leben begleitet sie wie ein Traum;...Wenn aber ihre Unruhe und Leidenschaftlichkeit sie vom Monde trennt und wegzieht zu einer neuen Geburt, dann läßt er sie nicht (fort), sondern sucht sie zurückzurufen  und mit Zauberkraft zu binden....Mit der Zeit aber nahm der Mond auch diese in sich auf und brachte sie zur Ruhe. Wenn dann die Sonne wieder mit ihrer lebenspendenden Kraft den Geist sät, empfängt ihn der Mond und bringt neue Seelen hervor, und die Erde gibt als Drittes den Körper dazu " (Plutarch, S. 72 f.). Die Vorstellung, daß der Zyklus der Wiedergeburt in Verbindung mit dem Mondlauf gesteuert wird, ist in diesen Darlegungen deutlich enthalten. An anderer Stelle dieses Textes (S. 71) wird es noch deutlicher gesagt, indem Plutarch auf die Existenz von Seelen verweist, die durch Läuterung zu den elysischen Gefilden (die sich auf dem Monde befinden) gelangen und sich dort zu Dämonen verwandelt haben: "Doch nicht für immer weilen die Dämonen auf dem Mond, sondern sie steigen zu uns herab, um Orakelstätten zu verwalten, und sie sind mitwirkend gegenwärtig bei den höchsten Mysterienweihen.....".
 

Der Eine, der aus Vielen besteht

Die Vorstellung eines Wesens, das aus vielen verschiedenen einzelnen Wesen besteht mag aufs Erste befremdlich erscheinen. In gewisser Weise vorbereitet durch die oben angeführten Schilderungen über das Leben der Toten auf oder im Monde werden wir erwarten dürfen, daß es vielleicht ikonographische Hinweise auf dieses Thema gibt. Insbesondere möchte ich hier auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Teufelsdarstellungen verweisen, die den einzelnen Körperteilen des Dämons personale Eigenständigkeit zuweist.


Fenster der St.Marienkirche, Frankfurt Oder (14. Jhdt.)

Heilige Zeiten

Die Bedeutung des Mondes und seines am Himmel erkennbaren Zustandes spiegelt sich auch in der Gestaltung von Festen und Ritualen wider, die in alten Zeiten mit bestimmten Mondphasen verbunden waren. So erwähnt z.B. Derolez, daß "die religiösen Feste der Germanen bei Vollmond begannen..." (Derolez, S. 241).
"Außer in unvorhergesehenen Fällen, die sofort erledigt werden müssen, halten die Germanen ihre Versammlungen in bestimmten Fristen zur Zeit des Neu- oder Vollmondes ab; einen Anfang zu dieser Zeit betrachten sie als die günstigste Vorbedeutung." (Tacitus, S. 18)
Ein Schäferkalender von 1560 zeigt in einer Illustration ein Ritual der Begrüßung der gerade am Himmel aufsteigenden Mondsichel (v. Zaborsky, S.75).



Benutzte Literatur

Bachofen, J.J.: Das Mutterrecht, Frankfurt a.M. 1982
Bellinger, Gerhard J.: Im Himmel wie auf Erden, München 1993
        "                  "         : Lexikon der Mythologie, Augsburg 1997
Derolez, R.L.M.: Götter und Mythen der Germanen, Wiesbaden 1974
Deschner, Karlheinz: Das Kreuz mit der Kirche, München 1982
Diederichs, Ulf (Hrsg.): Germanische Götterlehre, Köln 1984
Gichtel, Johann Georg: Theosophia Practica, Berlin / Leipzig 1736, Neuausgabe Schwarzenburg 1979
Glasenapp, Helmut v.: Indische Geisteswelt, Baden-Baden o.J.
Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, München 1984
Harding, Esther: Frauenmysterien, Berlin 1982
Hetmann, Frederik: Die Göttin der Morgenröte, Frankfurt a.M. 1986
Jung, C.G.: Symbole der Wandlung 1, Olten und Freiburg i.Br. 1989
Kaiser, Michaela (Hrsg.): Was zwischen Sonne und Mond geschah, Gütersloh 1988
Löwis of Menar (Hrsg.): Finnische und estnische Märchen, Reinbek 1994
Mylius, Klaus (Hrsg.): Älteste indische Dichtung und Prosa, Wiesbaden 1981
Nedo, Paul: Der Kienpeter - Eine Auswahl sorbischer Volksmärchen, Bautzen 1967
Nemenyi, Geza v.: Runenweissagung, Germanische Reihe, Heft 2, o.J.
        "                "      : Die Runenlieder, Germanische Reihe, Heft 15, o.J.
        "                "      : Runendeutung, Germanische Reihe, Heft 28, o.J.
Plutarch: Das Mondgesicht (Übersetzung von Herwig Görgemanns), Zürich 1968
Regler-Bellinger: Die Himmelsherrin bin ich - Gebete und Hymnen an Göttinnen, Bonn 1995
Renou, Louis: Der Hinduismus, Genf 1972
Ruben, Walter: Beginn der Philosophie in Indien, Berlin 1956
Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 1984
Simrock, Karl: Die Edda (Übertragung), Ammerland, 1983
Tacitus: Germania; übersetzt von Curt Woyte, Leipzig 1925
Telle, Joachim: Sol und Luna, Hürtgenwald 1980
Wenger, Matthias: Göttinnen und Götter in den Mysterien des Heidentums, Bergen/Dumme 1994
Zaborsky, Oskar v. : Urvätererbe in deutscher Volkskunst, Leipzig 1936
 








Albrecht Dürers Version von Offenbarung 12, 1: "Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen..."

Zusammenfassung

Sonnengöttin und Mondgott

Zur Revision der einseitigen Sichtweise der Geschlechterrollen möchte ich die Aufmerksamkeit der Gegenwart auf vorchristliche Mythologien lenken, die uns zwei Gestalten bieten, nämlich die Sonnengöttin und den Mondgott.

Daß es diese beiden Gottheiten gab, belegen die Mythen der Isländer, der Inuit, der Cherokee, der Japaner, der Esten, der Sorben, der Litauer, der Inder und der Ägypter.

Während die Sonne für das zentral ausstrahlende Feuer als fruchtbarkeitspendende Wärme steht, betrachtete man den Mond als den Seelenträger und Seelengeleiter, der die Seelenkräfte durch den Umlauf des kosmischen Wassers vermittelt.

Der Mond symbolisiert als Gott zwar auch die Verborgenheit der Mannes in einer matriarchalischen Gesellschaft. Und dennoch betrachtet man ihn auch in dieser Zeit als notwendigen Teil einer Ganzheit.

Seine Symbolik ist vielfältig, gemäß seiner Erscheinung am Himmel: Er wird symbolisiert durch gehörnte Tiere wie den Mondstier (= Mondsichel), durch das Schiff (= Halbmond) und den Schädel (=Vollmond). Letzterer ist sowohl stellvertretend für die „Ahnen im Himmel" als auch für den Kelch mit dem Seelenwasser, welches, wieder auf die Erde herabregnend, die Seelen zur Wiederverkörperung führt.

Zu Beginn der Neuzeit versinnbildlichte man die Rolle des Mondes als Seelenträger durch die Vielgesichtigkeit der Dämonen.

Zur Symbolik der Erscheinung des Mondes kommt noch die Darstellung der Mondbahn am Himmel als heiligem Berg (Himmelsberg) und seine Erhöhung am Himmel durch die Verbindung mit dem Mondbaum (= Weltbaum).

Die Beziehung der Gestirngottheiten kommt u.a. darin zum Ausdruck, daß sie teils als Geschwister und Liebespaar (Germanen, Inuit, Cherokee und Japaner) oder als Ehepaar (Inder, Litauer, Sorben und Griechen) gelten.

Die Tatsache, daß die hier aufgeführte Symbolik in der gesamten modernen Esoterik und neuheidnischen Symbolik nahezu unbekannt ist, belegt die kritiklose Rezeption spätantiker Umwertungen astraler Mythen durch die Gegenwart.