Welche Zukunft wünscht Ihr Euch ? – über ein Buch zur Förderung des Denkvermögens


Noch vor wenigen Jahren wurde sie von bürgerlichen Feuilletonisten als Schreckschraube altkommunistischer Unbelehrbarkeit gehandelt. Doch je mehr die Orientierungslosigkeit und die Sozialdemokratisierung der Linken fortschritten, desto interessanter begannen Leute mit einer klaren Position zu werden.

In ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ verbindet Sahra Wagenknecht eine schonungslose Analyse der kapitalistischen Gegenwart mit präzisen Vorschlägen, wie man es anders machen könnte.

Wer sich in operettenhafter Manier in Elendsarien ergeht, um über die Bosheit kapitalistischer Ausbeutung zu wehklagen, sollte die Finger von diesem Buch lassen: Wagenknecht ergießt sich nicht in moralisierenden Allgemeinplätzen.

Stattdessen beschreibt sie sehr exakt das gegenwärtige System der Geldwirtschaft und seinen Einfluß auf Produktion und Arbeit. Vor allem aber erweist sie sich als Historikerin, die uns in einem atemberaubenden Marsch durch die vergangenen 7 – 8 Jahrzehnte sehr genau beschreibt, wie sich die gegenwärtige Situation entwickelt hat. Diese „Lebensgeschichte“ des westlichen Kapitalismus ist zwingend notwendig, um zu begreifen wie seine gegenwärtige Unberechenbarkeit zu bewerten ist: Nicht als diffuse, gleichsam irrationale Bedrohung, sondern als gesetzmäßige Folge bestimmter Interessenkonstellationen und Handlungsoptionen. Viele Details, an die man sich als Leser des Wirtschaftsteils einer Zeitung anekdotenhaft zurückerinnert, treten plötzlich in einen sinnvollen Zusammenhang, werden zum Mosaikstein eines komplexen Prozesses.

Sarah Wagenknechts Rolle als Historikerin der westlichen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts bereichert unsere Rückerinnerung um die Wahrnehmung, wie gnadenlos die Kapitalbesitzer und ihre intellektuellen Callboys (pardon Ökonomen) jeden kleine Produktivitätsfortschritt benutzten, um die Arbeitenden in die Defensive zu drängen und ihren Kapitalbesitz noch zu vergrößern.

Ihre geschickte Strategie nutzt das Versprechen kollektiven Wohlstands durch Ludwig Erhard, um damit den Bürgerlich-Konservativen ihren Wahrnehmungsverlust zu demonstrieren: Die Vision, von der Ihr immer noch glaubtet, sie bilde Euren politisch-moralischen Rückhalt, wurde längst exekutiert. Und zwar zugleich hinter Eurem Rücken – und vor Euren Augen: Von jenen Geldhändlern, die ihren eigenen Sektor hemmungslos aufgeblasen haben – zu Lasten der Industrieproduktion und des Dienstleistungsgewerbes.

Diesen dramatischen Expansionsprozeß einer weltweiten Finanzakrobatik, die statt sinnvoller Produkte das Geld selbst zum Gegenstand von Effizienzüberlegungen machte, um sich damit ziellos und hemmungslos zu entwickeln, beschreibt sie mit erschreckender Präzision, mit messerscharfer Logik, mit schmerzlicher Unerbittlichkeit.

Das wäre auch das einzige Argument, von einer Lektüre dieses Buches abzuraten: Für eine gediegene, gemütliche Feierabendlektüre ist es völlig ungeeignet.

Von brutaler Desillusionierung dürfte das Buch vor allem für Grün-Alternative und Linksliberale sein, die sich durch die Neuauflage einer rotgrünen Bundesregierung eine Wende zum Besseren versprechen. Wagenknecht schildert akribisch, wie die Regierung Schröder überhaupt erst die gesetzlichen Vorraussetzungen für finanztechnische Schrottprodukte und entsprechendes Schmarotzertum schuf. Getreu der Devise: Sozialpolitisch schwadronieren, aber im Interesse der Banken handeln.

Von vollendeter Schalkhaftigkeit zeugt der historische Nachweis, daß sich fast alle westeuropäischen Volkswirtschaften in den Fünfziger und Sechziger Jahren planwirtschaftlicher Instrumente bedienten, um das sogenannte „Wirtschaftswunder“ jener Epoche überhaupt erst zu bewirken: Damit hat sich der allbekannte hysterische Rekurs auf die Erwiesenheit planwirtschaftlicher Inkompetenz anhand der DDR-Geschichte von selbst erledigt.

Sarah Wagenknecht beläßt es allerdings nicht bei einer historisch-politischen Analyse.

Sie macht auch sehr konkrete Vorschläge für eine „Resozialisierung“ von Millionenvermögen und kollektive demokratische Kontrolle von Industriezweigen, die für die Daseinsvorsorge unentbehrlich sind. Ihre zukünftigen volkswirtschaftlichen Optionen bedürfen zwar einer machtpolitischen Willensentscheidung.

Aber sie sind allemal realitätsbezogener als eine Finanzwirtschaft, die uns in Monatsabständen immer neue Quantitäten an Milliardenforderungen offeriert.

Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, daß viele Bankkaufleute oder Politiker beim Lesen dieses Buches das erste Mal in ihrem Leben wirklich bewußt wahrnehmen, wie sehr sich die westliche Ökonomie in den letzten dreißig Jahren verrannt hat.

Aber auch der „einfache Mensch aus dem Volk“ wird sich eingestehen müssen, daß er bisher nicht wirklich verstanden hat, in welchem System er tatsächlich lebt, daß Konsum- und Reisefreiheit nicht hinreichend sind, um unser politisches System erschöpfend zu beschreiben oder gar moralisch zu rechtfertigen.

Eine gravierende Schwachstelle dieses Werks kann ich allerdings nicht übergehen: Es reicht nicht, die Forderungen nach einer menschlichen Ökonomie nur auf dem Hintergrund buchhalterischer Logik zu stellen.

Die einfache Antwort der sozialistischen Systeme, daß es immer mehr Menschen immer etwas besser gehen möge, ignoriert das Problem der Qualität menschlicher Bedürfnishaftigkeit. Mit welcher Zielsetzung bringen Menschen Produkte hervor, warum und wofür stellen sie, im humanistischen Sinne, ihre Arbeitskraft zur Verfügung ?

Ich glaube kaum, daß eine sinnvolle Antwort auf diese Frage möglich ist, wenn man die Gegenwartsökonomie so weiter wuchern läßt, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Dabei helfen uns das Prinzip Gemeinsinn oder die Interessenlage der Belegschaften nicht wirklich weiter.

Hier glaube ich, sind Anthropologie, Tiefenpsychologie und Philosophie gefragt.

Und noch eine historische Fragestellung darf man sich als Linker nicht verkneifen: An welchem Punkt hatte die Vision einer neuen Gesellschaft in den herkömmlichen sozialistischen Systemen eine Wendung zum Falschen genommen ?

Schließlich hat die Krise des Kapitalismus derartige apokalyptische Ausmaße angenommen, daß die nächste Revolution keinen Beliebigkeitscharakter haben darf – sie sollte von menschheitsgeschichtlicher Nachhaltigkeit sein.


Sarah Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus, Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2011 – ISBN 978-3-8218-6546-1 (19,95 €)


Matthias-Wenger@web.de 07.02.2012