Assoziationen
zum Thema Schamanismus 

Von Webewölfin

Wer sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen möchte, dem sei Mircea Eliade Schamanismus und archaische Extasetechnik empfohlen.

Was sich aus den von mir gelesenen wissenschaftlichen Werken und Märchensammlungen ergibt ist folgendes: Schamanismus ist ein universelles Phänomen. Es gibt ihn überall und zu allen Zeiten in jeder denkbaren Umgebung.

Die nötigen Fähigkeiten sind angeboren und brechen irgendwann im Leben hervor. M. E. hat sie jeder in sich, und jeder kann sie mehr oder weniger stark ausbilden. So wie jeder mehr oder weniger gut singen oder fahrradfahren kann. Der Vergleich zu solchen profanen Dingen ist gewollt: Schamanismus ist etwas Profanes, nichts Besonderes und schon gar nicht etwas, was man in 5000,- DM - Seminaren in den heiligen Bergen des Himalaja lernen muß.
Wer glaubt, in einem Wochenendseminar für 600,- DM zum diplomierten Schamanen ausgebildet werden zu können, erreicht zwei Dinge: Erstens: Er macht sich vor jedem echten Schamanen lächerlich. Zweitens: Er hat heilende Kräfte - auf die Geldbörse des Veranstalters.

Was aber ist es, daß den Schamanen im Hopi-Reservat, in der sibirischen Tundra oder im Großstadthinterhof von anderen unterscheidet?
Es ist zunächst nur die Fähigkeit, seinen Bewußtseinszustand zu wechseln, zu reisen. Diese Reise kann ganz ohne Hilfsmittel (nur durch Konzentration, Bewegung), mit äußeren Hilfsmitteln (Trommel, Techno-Musik) oder inneren Hilfsmitteln (alle Arten von Drogen) angetreten werden.
Ich werte die inneren Hilfsmittel nicht ab, ebensowenig, wie ich Rollstühle, Brillen oder Insulinspritzen abwerte. Sie sind wichtig für Menschen, die sie brauchen.
Ein starker Schamane gebraucht Drogen allenfalls zur Ergänzung oder aus Abenteuerlust. Mein Ziel ist es, ganz ohne Hilfsmittel zu reisen.
Zu den äußeren Hilfsmitteln: Eine tolle Büffelhauttrommel mit schöner Tierzeichnung von einem echten Hopi-Indianer angefertigt, macht zwar Eindruck, aber noch keinen Schamanen. Zwar haben gewisse Kulturen viel altes Wissen und sicher auch manchen nützlichen Hinweis, aber ich bedenke immer folgendes: Ich bin keine Hopi, Inuit, Mongolin, sondern geboren und aufgewachsen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Ich habe weder die Pflanzen noch die Tiere um mich, die den Kulturen als Hilfsmittel dienen. Und ich komme aus einer Kultur, die andere Kulturen seit 500 Jahren ausbeutet und vernichtet. Diese Überlegungen haben für mich zur Folge, daß ich die Hopi Hopi sein lasse. Ich lasse andere Kulturen in Ruhe, dränge mich ihnen nicht auf und nehme ihnen durch Schwitzhüttengetue nicht noch den letzten Rest von Unabhängigkeit und Würde.
Und ich hüte mich davor, sie als Projektionsfläche für meine eigenen Weltverbesserungswünsche zu mißbrauchen. Hopi sind auch nur Menschen.

Das Ergebnis der Reisen können Heilungen, Zauber, Selbsterkenntnis oder Divination sein. Schamanismus ist nicht auf eines dieser Reiseergebnisse festgelegt, und auch nicht auf Kategorien wie weißmagisch oder schwarzmagisch. Wie alle anderen Menschen so haben auch Schamanen mal freundliche und mal feindliche Absichten.
Schamanismus kann zumeist nur allein praktiziert werden. Man kann zwar zeitgleich mit mehreren reisen und sich seine Eindrücke schildern, aber auf dem Weg sind durchschnittliche Schamanen allein. Ich weiß nur von zwei Frauen, die tatsächlich gemeinsam reisen und dasselbe erleben.

Was ist nun eine Reise? Eine Reise ist ein Erleben in einem vom Wachbewußtsein zu unterscheidenden Bewußtseinszustand. Diesen Zustand zu beschreiben erscheint kaum möglich. Ich will es dennoch ansatzweise versuchen, wobei ich nur auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen kann.

Er beginnt mit einer Benommenheit, in der die Dinge nicht klar voneinander unterschieden sind: Ob die Bücher Teil des Regals sind, Auswüchse, getrennt vom Regal oder nur eine Einbildung, spielt keine Rolle. Eine gute Möglichkeit, mich aus diesem Stadium zurückzuholen sind Fragen wie: Ist das Buch ein Teil des Regals oder nicht? Was macht man mit einem Buch?
Ungefähr zeitgleich kommen die Hilfsgeister und das Totem. Auch hier ist es irrelevant, ob ich zum Totemtier werde, ob es mich begleitet, oder ob es mir nur zufällig begegnet. Es verschwindet sofort, wenn einer fragt: Bist du das Tier, begleitet es dich, oder ist es ein Symbol für dich?
Vielleicht ist es die Furcht vor solchen Fragen, die die meisten Schamanen davon abhält, Besucher zu dulden. Vielleicht ist das Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis genau durch solche Fragen gekennzeichnet (übrigens gibt es dieses Motiv nicht nur im Christentum). Vielleicht ist jemand, der diese Fragen als Erwachsener zum erstenmal hört, also den Wechsel noch nicht gelernt hat, wirklich auf immer aus dem Paradies vertrieben.
Wie auch immer: Sind die Geister da, trete ich in die nächste Phase ein. Hier verschieben sich die Bedeutungen der Dinge: Das Detail eines Kugelschreibers kann zum Universum werden, während die Lampe völlig bedeutungslos wird. Der Rhythmus der Trommel wird bedeutungslos, das Ticken der Wanduhr wird zum Universum. Dazu sei angemerkt, daß Menschen mit Behinderung durchaus gute Schamanen werden können: Blinde als Klangreisende, Gehörlose als Bilderreisende, Taubblinde als Tastreisende... (Also auch hier: Keine Chance für irgendwelche Lebenswertes-Leben-Diskussionen.)
In diesem Stadium ist aktive Konzentration nicht mehr nötig.
Dann beginnt die eigentliche außerweltliche Reise. Das, was zum Universum wird, dient meistens als Tor zu diesen anderen Welten. Die Orte, an die ich reise, werde ich hier nicht beschreiben. Zum einen, weil sie geheim sind, zum anderen, weil sie sich absolut nicht in Sprache pressen lassen wollen. Von dort kehre ich nur von selbst heim - oder gar nicht. Wenn ich überhaupt nicht heimkehre, helfen drei Dinge: Etwas aus dieser Welt zu trinken (möglichst Schnaps), etwas aus dieser Welt zu essen (möglichst etwas widerwärtig bitteres oder scharfes), etwas aus dieser Welt zu spüren (möglichst etwas so widerwärtiges wie Eiswürfel, Schläge oder schrille Töne). Achtung: Essen und trinken geht nur, wenn derjenige das Dargebotene mechanisch annehmen und selbst sich zuführen kann. Ansonsten droht Erstickungsgefahr! Unerfahrenen Schamanen empfehle ich dringend Gruppenreisen mit einem diesweltlichen Wächter, der nicht zu zimperlich ist.
Schamanen aller Kulturen benutzen die jeweils übliche Mythologie, um sich ihren Zuhörern verständlich zu machen. Ich vermute, daß diese Mythen als Symbole des Unbeschreiblichen benutzt werden, jedenfalls erscheint es mir einleuchtend, sie als kleinsten gemeinsamen Nenner zu verwenden.

Woher weiß ich, daß ich ein Schamane bin? Falsche Frage! Woher sollst du wissen, daß du keiner bist!? Versuch`s, und wie beim Versuch zu singen oder Fahrrad zu fahren, wirst du`s schon merken. Und glaube nicht den Leuten, die dir weismachen wollen, du bräuchtest Seminare, Initiationen, oder sonstwas für Fachwissen. Was du allerdings brauchst, ist ein Mensch, der weiß, wie es abläuft, und der dich zurückholt, wenn du das nicht schaffst. Außerdem brauchst du einen Menschen, der mit deinen Horrortrips umgehen kann, denn die Orte sind u.U. nicht so licht und schön, wie die New-Age-Bewegung dir weismachen will. Eines der schlimmsten Erlebnisse war, dem grausamsten, schrecklichsten Monster zu begegnen, daß es gibt: Dem eigenen Schatten, den eigenen Leichen im hausgemachten Keller.

Und wie werde ich ein Schamane? Du brauchst drei Federn der schwarzen Krähe und drei des weißen Adlers, auch Haare des Büffels. Dann gehst du hinaus in die Prärie, einsam auf der Vision-Quest. Du hast nur ein Messer bei dir und einen heiligen Pilz und die Erinnerung an das Gemurmel des alten, weißhaarigen, weisen Dorfschamanen...
Das erste, was alle echten Schamanen auszeichnet, die ich kenne, ist ein ziemlich erdiger, selbstkritischer Humor, und die Tendenz, solche Frager zu foppen, vor allem durchgedrehte Westeuropäer.
Dennoch gibt es ein paar ernstgemeinte Tips, denn so ein echter Schamane bin ich dann doch nicht: Versuche zunächst herauszufinden, was dein Reisemittel ist. Der Klang einer Trommel? Das Ticken einer Uhr? Das Glitzern der Wellen auf dem Wasser? Glasperlen (die sich Eingeborene deshalb haben schenken lassen?) Der neue Bildschirmschoner? Das Wiegen deines Körpers?
Dann übe! Ich habe leider überhaupt kein Rezept für Schamane werden in 48 Stunden. Manche schaffen es sofort, manche in fünf Jahren, manche sehr stark, manche schwach. Wenn du fünf Jahre übst, und es dann schwach hinkriegst, ist das kein Grund zum Greinen, du bist deshalb nicht schlechter als andere. Wenn du es in einer Minute stark hinkriegst: Gib nicht an! Man erkennt eine schlechte Reisegruppe an dem ewigen Konkurrenzkampf: Was, du hattest heute wieder keine Kobolde im Kühlschrank??
Wenn du es geschafft hast, dann weißt du es auch. Es ist wie mit dem Verliebtsein: Man kann es nicht erklären, aber wenn es da ist, erkennt man es sofort. Und es ist eigentlich kein Es-Schaffen: Es passiert einfach. Du schaffst nur den Rahmen, der das Passieren erleichtert.

Ein Wort zum vielzitierten Plastikschamanismus: Darunter verstehe ich die Ausbeutung fremder Kulturen durch Ausschlachtung ihres (vermeintlichen) Wissens: Ein Stamm in Nordamerika hat eine große Figur den Anthropologen als Waitiki beschrieben. Die Anthropologen machten daraus einen Fruchtbarkeitsgott Waitiki. Irgendwann hat ein viel zu netter, viel zu mitleidiger Angehöriger dieses Stammes die Anthropologen darüber aufgeklärt, daß Waitiki Große Scheiße heißt... Fand ich prima...
Das beste Gegenmittel gegen Plastikschamanismus ist: Bleibe bei dir, in deiner Umgebung. Beobachte die Tauben und Hunde gründlich. Suche einen Baum in der Nähe deines Hauses aus und beobachte ihn lange und gründlich. Höre dem Regen zu. Begrüße Orion und den Mond. Aber verfalle nicht irgendeinem Naturromantizismus. Ein Schamane nimmt die Dinge wahr, wie sie sind, ohne auf Verklärung angewiesen zu sein. Auch seine Bewußtseinsveränderungen sind keine Verklärung, sondern u.U. harte Realität.

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