Die Winterdepression - Krankheit
oder Naturprodukt ?

Wenn die Tage immer kürzer und kürzer werden, wenn sich Dunkelheit über das Land senkt - begeben sich die Menschen nach innen: Das gilt im materiellen, physischen, aber auch im übertragenen, seelischen Sinne.

Wir halten uns nur noch wenig draußen auf, ist doch die bunte Weit der Blumen, Gräser und Früchte einem dunklen, trockenen oder wahlweise morastigen Einerlei gewichen. Wir begeben uns in erleuchtete Innenräume, mit heißen Getränken und einem guten Buch bewaffnet.

Dem Rhythmus der Natur folgen wir heutzutage ebenso, wie wir es seit Jahrtausenden taten, wie es wahrscheinlich auch unsere Vorfahren taten - nur daß wir das Privileg genießen, es auf gemütlichere, beschaulichere Weise tun zu dürfen, als damals. Damals, als Winter oft mit Hunger, Angst und anderen Entbehrungen verbunden war.

Oft geschieht es aber auch, daß unser Tatendrang nachläßt, daß wir innerlich müde, freudlos und unbeteiligt werden - leer unsere Blicke, ohne Antrieb unser Körper.

Wer darauf aufmerksam wird, sind Psychiater und Neurologen - Angehörige einer Zunft, die hinter mancher Abweichung unseres Seelenlebens eine Krankheit, eine Fehlfunktion, ein Entgleiten ihrer natürlichen Aufgaben wittern.

Dabei entspricht es einem sinnvollen Ziel, wenn Menschen in unserer Klimazone in einer zunehmend dunkleren Jahreszeit verhalten, innerlich still und auch etwas unwillig werden, sich in äußere Aufregungen hineinzusteigern.

Die "Nervenärzte", als geschulte Wachhunde der kapitalistischen Ausbeutungsmaschinerie darauf angesetzt, abweichendes Verhalten zu eliminieren, haben die Diagnose schon parat: Es handele sich um eine Winterdepression, um eine gefährliche, behandlungsbedürftige Krankheit, die man beeinflussen müsse. Mit Psychopharmaka, mit künstlichem Licht - oder gar mit therapeutischen Gesprächen. Nun, wenn der Angehörige eines freien Berufes anstrebt, sein Einkommen zu erhöhen, mag das nicht grundsätzlich verwerflich erscheinen.

Die Frage ist, ob die psychiatrische Manipulationsmaschinerie den wahren Interessen ihrer Opfer dient. Was ist es wirklich, was in einer solchen Situation den Menschen dient ?

Dies ist eben nicht die Zeit, seinem Antlitz das verzerrte Lächeln der Dienstleistungshysterie abzuzwingen. Es ist die Zeit, seine Augen zu schließen und sich bei einem duftenden Räucherkegel inneren Bildern aufzuschließen, die eigene Seele der anderen Welt zu eröffnen.

Wir sind in dieser Zeit des Jahres eben nicht dazu geschaffen, mit schweren Tüten durch von Musikgedudel erfüllte Einkaufspassagen zu hetzen. Jetzt ist die Zeit der inneren Einkehr, der Meditation, der Ruhe und Sammlung. Auf daß unser Körper im Frühjahr, wenn die Tage wieder länger werden, kraftvoll und erholt sein möge, um neu in die Welt hinauszueilen !

Es sei den Trägern des weißen Kittels gegönnt, um der Krankenkasse willen festzustellen, daß wir jetzt nicht arbeitsfähig sind - aber das berechtigt sie nicht, unsere spirituelle Situation in einen pathologischen Zusammenhang zu stellen.

Jene, die jetzt in ihrer elenden Konsumwut den ewigen Tanz ums goldene Kalb mittanzen, die glauben, ihn mittanzen zu müssen - diese scheinen mir die wahrhaft Kranken zu sein.

Matthias Wenger