Matthias Wenger


Die Zukunft der Geschichts- und Chronologiekritik


Man könnte sich die Frage stellen, wozu wir eigentlich ein Geschichtsbild brauchen. Überträgt man diese Überlegung auf Tatsachen aus der eigenen Lebensgeschichte, so wird man vielleicht eine interessante Feststellung machen: Die Rückerinnerung an bestimmte Geschehnisse wird man in ihrer chronologischen Reihenfolge, eben ihrer Schichtung meist richtig wiedergeben können,

Versucht man hingegen, derart markante Ereignisse präzise auf Jahr, Monat und Tag zu datieren, so wird man in den meisten Fällen scheitern. Dies ist ein einfaches Beispiel für den qualitativen Aspekt von Erinnerung. Aber genau darum geht es in „unserer“ Art von Geschichtsschreibung nicht. Im westlichen Verständnis von Geschichte ist die chronologische Messung das Wesentliche. Das liegt daran, daß es ihr ursprünglich nicht um die berichteten Geschehnisse selbst geht, sondern um deren Verhältnis zu einem zentralen Punkt in der Vergangenheit: Der Geburt des christlichen Religionsstifters.

Die Messung der seitdem vergangenen Zeitdauer ist ihr Hauptgesichtspunkt – offenbar in der Absicht, deren „Altehrwürdigkeit“ hervorzuheben.

Was ist folglich die Quintessenz des Geschichtsbildes in Europa, im „Abendland“ bzw. der westlichen Welt ?

Wie schon die Zeitrechnung A.D. (Anno Domini = Im Jahre des Herrn) zeigt, baut sie ganz generell auf der Geschichte des Christentums und seines vermeintlichen historischen Ursprungs. auf. Damit aber wird die kritische Betrachtung der religiösen Prägung dieses Geschichtsbildes der maßgebliche Gegenstand der Geschichtskritik.

Das westliche Geschichtsbild ist in letzter Konseqenz abhängig von der urkundlichen Selbstdarstellung der kirchlichen Kleriker (Stichwort „Kirchengeschichte“) und der von ihnen propagierten „heiligen Bücher“ (Altes und Neues Testament).

Wie die Textgeschichte dieser Quellen zeigt, ist das Christliche und das Jüdische dabei unauflöslich verbunden, was die um 400 nur noch in griechischer Sprache überlieferte Fassung des Alten Testaments (Septuaginta) deutlich zeigt.

Geschichtskritik an sich ist also primär Kritik des realhistorischen Anspruchs der christlich-jüdischen Offenbarungsreligion.

Ohne auf deren Außenwirkung Bezug zu nehmen, kann man sagen: Allein die Innenverhältnisse des christlich-jüdischen Systems (Antisemitismus, Ketzerverfolgungen, Protestantenhatz und zwei innerchristliche Weltkriege) schreien geradezu nach einer kritischen Würdigung des Ganzen.

In der herrschenden Wissenschaft ist inzwischen feststellbar, daß niemand mehr von einer zweifelsfreien Quellenlage der historischen Überlieferung des Abendlandes ausgeht.

Dazu einige Zahlen:

Der Stuttgarter Archivar Peter Rückert stellte in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung (22.08.09) fest, daß bis zu 50% der erhaltenen Urkundentexte aus dem Frühmittelalter gefälscht seien. Dies sei der aktuelle Forschungsstand. Auch im 12. und 13. Jhdt. sei die Fälschungsproduktion sehr hoch gewesen. Besitzrechte, Freiheiten und Privilegien sei ihr hauptsächlicher Gegenstand.

Prof. Dr. Theo Kölzer von der Universität Bonn hat die Urkunden der merowingischen Könige untersucht: Zwei Drittel davon seien gefälscht.1

1986 fand in München ein Kongreß über gefälschte Dokumente statt, dessen Kongreßbericht sich auf sechs Bände auswuchs: die Schenkungsurkunde des Kirchenstaates, Papstbriefe und Konzilsakten wurden in Skriptorien wie in Kanzleien von Mönchen produziert. 2

Halten wir also fest: Die Urheber der Fälschungen des christlichen Geschichtsbildes sind Kleriker, deren Nutznießungsgründe vordergründig gesehen zunächst nur juristischer und materieller Natur waren. Christliche Geistliche werden damit zu Trägern und Agitatoren des herrschenden Geschichtsbildes.

Wie aber Jan Assmann kürzlich in einem religionsgeschichtlichen Vortrag ausgiebig erläuterte, kommen auch noch in allen säkularen Ideen von menschlicher Geschichte theologisch-heilsgeschichtliche Schemata zum Tragen.3 Es geht hier also nicht nur um ein paar Besitzrechte, sondern zum Beispiel um die Idee, daß der archaische Mensch, aus einem primitiven Urzustand heraus geführt werden muß, um „göttliche“ Vollkommenheit zu erlangen: Eine imperialistische Grundvorstellung, die allen evolutiven Interpretationen von Geschichte wie selbstverständlich zugrunde gelegt wird.


Wenn das grundlegende Verständnis von Geschichte bisher jahrhundertelang von der Bibel-Agitation geprägt war, stellt sich die Frage, ob sich nicht schon öfter Widerstand und Widerspruch dagegen erhoben hatte. In der Tat gibt es eine Art „Prähistorie“ der Geschichts- und Chronologiekritik des 20. Jhdts.

Schon die Siebziger Jahre des 18. Jhdts. sind erfüllt vom „Fragmentenstreit“: Lessing hatte 1774 – 1778 nachgelassene Texte des Hermann Samuel Reimarus veröffentlicht, die dieser zwischen 1735 und 1767/68 verfaßt haben muß. Die Texte enthielten eine radikale Bibelkritik, in der Jesu Wundertaten wie auch seine Auferstehung bezweifelt werden, Propheten, Apostel und Jesus selbst werden als Betrüger bezeichnet. Das führte zu einem heftigen Angriff des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze, der Lessing vorwarf, durch die Leugnung der neutestamentlichen Geschichte den christlichen Glauben zu gefährden.

Das Ganze endete vorerst damit, daß Lessing ein Schreibverbot zu religiösen Themen erhielt, daß er mit dem Nathan kunstvoll zu umschiffen versuchte.

Aber dieser Vorgang war eigentlich erst der Startschuß für eine bis in die Mitte des 20. Jhdts. reichende Entwicklung der protestantischen Theologie, die mittels der historisch-kritischen Methode textanalytisch die Bibel beider Testamente sezierte und ihres historischen Wahrheitsgehaltes gründlich entkleidete.

Aber nur im äußersten Umfeld der eher literaturgeschichtlichen Zerlegung des Textes durch die sprachgeschichtliche Kleinarbeit der Theologen ereigneten sich die Arbeiten zweier Forscher wie Friedrich Delitzsch und Arthur Drews (1865 – 1935).

Ersterer eröffnete am 13.01.1902 mit einem Vortrag vor der deutschen Orient-Gesellschaft den „Babel-Bibel-Streit“. Seine These anhand der gerade veröffentlichten Übersetzungen altbabylonischer Texte: Viele Inhalte des Alten Testamentes waren aus der babylonischen Überlieferung abgekupfert, so etwa Teile des Schöpfungsberichts, der Sintflutbericht und die mosaische Gesetzgebung. Durch den Nachweis der historischen Abkunft der Texte war ihr Charakter als originäre Offenbarungsurkunde gründlich dekonstruiert. Aber das galt schließlich auch für ihr Selbstverständnis als Urkunde israelitischer Nationalgeschichte ! Die Autoren konnten nurmehr als Kolporteure sakraler Literatur gelten, die sie in ihrem babylonischen Exil vorfanden – aber nicht mehr als Empfänger göttlicher Inspirationen.4

Arthur Drews veröffentlichte 1909 sein Werk „Die Christusmythe“, in welchem er verdeutlichte, daß die wesentlichen biographischen Details der Jesusgeschichte Parallelen in mythologischen Legenden der sterbenden und wiederauferstehenen Fruchtbarkeitsgötter des gesamten Mittelmeerraums und des vorderen Orients aufwiesen.

Damit war der realhistorische Anspruch der Geschichte des Urchristentums zum Abbruch freigegeben.

Obwohl diese Erkenntnisse in weiten Teilen des deutschen Bildungsbürgertums zu einem dramatischen Vertrauensverlust gegenüber der Bibel als historischer Urkunde führten, hatte das keine großen Veränderungen im priesterlichen Habitus der Theologen zur Folge. Obwohl die Theologen innerhalb ihrer Zunft kritisch-historisch zu arbeiten begannen, einigten sie sich in der Außendarstellung auf einen wenigtens symbolisch-spirituellen Wert der biblischen Texte. Damit frühstücken sie ihre Herde bis zum heutigen Tage ab.


Die geschichts- und chronologiegeschichtliche Bewegung unserer Tage ist ein Phänomen, das zunächst in der Mitte des 20. Jhdts. verortet werden kann.

Immanuel Velikovsky (1895 – 1979) seines Zeichens Arzt und Psychoanalytiker präsentierte seit 1950 mit dem Werk „Welten im Zusammenstoß“ seine Dekonstruktion der Geschichte des Vorderen Orients.

Seine Hauptthese bestand darin, daß archäologisch feststelbare Untergänge großer Kulturen nicht durch Kriege, wirtschaftliche Auseinandersetzungen oder innerkulturelle Dekadenz verursacht worden waren. Er sah den Anlaß in kosmischen Katastrophen durch Bahnveränderungen der Planeten Venus, Mars und Merkur, die auf der Erdoberfläche Verwüstungen durch Veränderungen der Gravitation und elektromagnetische Wirkungen auslösten.

Das eigentlich Spannende an Velikovskys Theorie ist aber ihr psychohistorischer Aspekt, wie er von Gunnar Heinsohn ausgiebig erläutert wurde: Die Überlebenden einer kosmischen Katastrophe seien von dem Erlebten traumatisiert. In Ritualen und Mythen versuchen sie künftig, ihre seelische Ausnahmesituation zu verarbeiten.

In dem Buch „Ages in Chaos“5 bemüht sich Velikovsky, die im Buch Exodus des Alten Testaments beschriebenen Geschehnisse als historische Realität zu verdeutlichen – und als Niederschlag katastrophischen Erlebens. Mit diesen Überlegungen kommt er zu einer wesentlich früheren Datierung des Exodus als die konventionelle Forschung.

Historisch verblüffend an Velikovsky ist zunächst, daß eine rund 40 Jahre vorher ausgebildete Katastrophentheorie von ihm offenbar nicht im Geringsten berücksichtigt wird: die sog. Welteislehre de österreichischen Ingenieurs Hans Hörbiger (1860 – 1931), die dieser zusammen mit Phillip Fauth 1913 veröffentlicht hatte.

Bei Hörbiger allerdings sind die Hauptauslöser kosmischer Katastrophen verschiedene Monde, die der Erde zu nahe kommend von ihr schließlich im Äquatorbereich zerrieben wurden.6

Natürlich darf man nicht vergessen, daß die Welteislehre von den Nazis mißbraucht wurde, obwohl ihre darwinistische Grundtendenz in Bezug auf die Menschheitsevolution nicht spezifisch nationalsozialistisch war.

Die Problematik ist aber bei ihr wie auch bei Velikovsky die gleiche: Die wesentlichen Quellen ihrer Beschreibungen kosmischen Geschehens sind Mythen.

Obwohl sich Mythen vielschichtig interpretieren lassen, werden sie hier vorwiegend als verschlüsselte Himmelsbeobachtungen gedeutet. Gottheiten gelten hier als Himmelskörper, ihre Abenteuer und Schicksale werden als astrophysikalische Abläufe verstanden.

Die scheinbare Wissenschaftlichkeit eines kosmischen Katastrophismus wird insofern konterkariert durch die Neuentdeckung der Mythen der Bibel wie auch anderer religiöser Texte als realhistorischer Quellen.

Eine wesentliche Eigenschaft des mythenschaffenden Menschen wird in dieser Art von Mythenrezeption überhaupt nicht beachtet: Die unkontrollierbare Bildekraft des menschlichen Geistes, seine Imaginationsfähigkeit, die nicht nur das gesamte Leben der Natur verwertet, sondern auch die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit. Das Geschehen am Himmel ist zwar ein Teil dieses Umfassenden, aber eben nur ein Teil.

Kritisch läßt sich zum Katastrophismus noch Folgendes sagen:

Ein direkter Zusammenhang zwischen dem diesbezüglichen Erleben der Menschen, ihrem Handeln und den mythischen Texten ist nicht nachweisbar.

Es gibt genügend Katastrophen, die sich ausschließlich terrestrisch und auch nur lokal ereignet haben können, was ihre Wirkung nicht mindern mag:

Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überflutungen, Epidemien, Klimaveränderungen durch Vegetationswechsel. All diese Katastrophen können hingegen durch zivilisatorisches Handeln des Menschen verursacht werden, zum Teil auch in der Prähistorie. 7 8 9

Schließlich werden die traumatisierungsbedingten Opferrituale in der Bronzezeit verortet, deren Vorraussetzung ein großangelegter Bergbau in weiten Teilen Südeuropas und Vorderasiens gewesen sein muß

Der Katastrophismus hat schließlich ein bestimmtes Menschenbild zur Folge, das ganz in den Kontext monotheistischer priesterlicher Willkür paßt: Ein Mensch, der solche Katastrophen als „Naturereignis“ erlebt, ist ihm hilflos ausgeliefert – er ist ein fatalistisches Objekt einer blinden Energie. Wenn man folglich den Katastrophismus monokausal zum maßgeblichen Antrieb des geschichtlichen Werdens macht, fällt das handelnde Subjekt als schöpferischer Mensch schlichtweg aus. Zum hauptsächlichen Impuls allen geschichtlichen Handelns wird die Furcht.

Eine besondere Zäsur erlebt die geschichts- und chronologiekritische Bewegung 1982 mit der Gründung der Gesellschaft zur Rekonstruktion der Menschheits- und Naturgeschichte.

Gunnar Heinsohn und Heribert Illig treten mit einer Reihe von Arbeiten auf, die mehr oder weniger stark von Velikovsky inspiriert sind.

1989 veröffentlichte Illig eine Fundamentalkritik der prähistorischen Chronologiegerüste. 10 Das Resultat seiner Neujustierung besteht darin, die Megalithkultur näher an die bekannten Schriftkulturen heranzuführen, nämlich in das erste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Schließlich dann richtet Illig seine besondere Aufmerksamkeit auf die Zeit der Karolinger. Er kommt mit seiner Phantomzeithypothese zu der Auffassung, daß die Zeit von 614 bis 911 ohne konkreten historischen und archäologischen Inhalt bleibt, somit eine chronologische Konstruktion darstellt. Als Urheber der Phantomzeit ermittelt Illig ein Triumvirat aus Ottonen (Otto III.), byzantinischem Hochadel und Papsttum, die als Zeitgenossen der Vollendung des ersten magischen Jahrtausends des Christentums auftreten wollten.11 Das Problem an der Phantomzeitthese ist natürlich, daß hier lediglich ein Kapitel klerikaler Geschichtsfälschung berührt wird. Die vermutete Urheberschaft der Phantomzeit ergibt nur dann einen Sinn, wenn der gesamte Rahmen der Christentums – und Kirchengeschichte bis zum Jahr 600 akzeptiert bleibt – wenn die frühe Existenz des Papsttums, und eine noch frühere Christianisierung Europas nördlich der Alpen als unangetastete historische Realität bestehen bleibt. Demgegenüber hat Uwe Topper mit seiner Radikalkritik reagiert, die die Entstehung der römisch-katholischen Kirche in die frühe Neuzeit verlegt. Aussagen über gefälschte kirchengeschichtliche Urkunden hat er für diese These ausreichend vorgelegt.12


In seiner erstmals wohl 197713 veröffentlichten Hypothese entwirft Gunnar Heinsohn eine spezielle Antisemitismustheorie: Zur psychischen Entlastung von ihrer Traumatisierung durch kosmische Katastrophen hätten archaische Kulturen blutige Menschenopfer eingeführt, mit denen sie die Gottheiten der Planeten verehrten. Die Juden hätten sich entschieden von dieser Opferpraxis und der Götterverehrung abgewandt. Damit hätten sie den Haß der opfernden Götterverehrer auf sich gezogen, die durch die Negation der Opferriten eine Bedrohung ihres seelischen Gleichgewichts erahnten.

Mit dieser Sichtweise wird die Reaktion der Menschen auf kosmische Katastrophen zum Ursprung der Religionen und Mythen, aber auch des Judentums.14 Das Judentum stellt in dieser Sichtweise die fortschrittlichste Form der Bewältigung des traumatischen Erlebens der kosmischen Katastrophen dar: Juden verzichten auf das Blut- und Menschenopfer und entwerfen den Monotheismus.

Mit dieser realhistorischen Deutung eines Sonderfalls der mediterranen Religionsgeschichte bewirkt Heinsohn vor allem dreierlei:

Er wertet einen religiösen und sozialen Konflikt innerhalb des christlichen Dunstkreises auf zu einer Konstellation von welthistorischer Bedeutung.

Er wertet alle naturalistischen Formen von Religiosität ab als naiven kultischen Automatismus mit ausschließlich sozialtherapeutischer Funktion.

Er stützt die jüdische Selbstdarstellung einer geistig-kulturellen Überlegenheit auf der Basis eines realhistorischen Hintergrunds.

Damit vollbringt Heinsohn das Kunststück, die Authentizität der biblischen Überlieferung erneut glaubhaft zu machen. Zwar konstruiert er sein Geschichtsbild unter Zuhilfenahme des gesamten Inventars der kritischen biblischen Archäologie und entsprechenden Textexegese. Aber im Endeffekt ist die theologisch/monotheistische Selbstreferenz des Judentums und der moralische Anspruch seiner Propheten gegenüber den „heidnischen Götzendienern“ für bare Münze genommen.

Heinsohn scheint entgangen zu sein, was Assmann in seiner „Mosaischen Unterscheidung“15 ausführlich diskutiert: Der Exklusivitätsanspruch des Judentums gebiert eine Intoleranz, die sich im christlichen Antisemitismus in schlimmster Weise gegen die Juden selbst richtet – und zugleich gegen alle „Feinde“ des Christentums.

Religionsgeschichtlich ist hingegen gut nachvollziehbar, daß sich die Abkehr vom Menschenopfer und die Herausbildung eines monotheistischen Gottesbildes in vielen verschiedenen alten Kulturen vollzogen hat.

In der Geschichte des Griechentums und des Hinduismus sind beide Vorgänge nachweisbar. Heinsohn erwähnt das auch am Rande, zieht aber keine Schlußfolgerungen daraus.

Was mich an Heinsohns religionsgeschichtlicher Theoriebildung besonders fasziniert, ist seine Bewertung des Christentums: Der vorgebliche Opfertod Jesu wird als Rückgriff auf Menschenopferphantasien gedeutet, was zu seinem Image als Erlöser maßgeblich beigetragen haben soll. Dieser eigentlich frontale Angriff auf das Christentum und dessen humanitäres Selbstbild erfolgt ohne größere Begründungsstrategie, gleichsam in Form einer Fußnote. Das ist mehr als erstaunlich, weil hier im Gegensatz zu der von Heinsohn thematisierten Bronzezeit eine große Masse beweiskräftigen Materials vorhanden ist. Daumer erwähnt er nicht.16

Heinsohn ist ein extrem vielseitiger und kreativer Kopf: Er entwirft eine besondere Theorie der Entstehung des Eigentums, bei der die Entstehung des Geldes durch die Begründung der Zinsnahme erklärt wird.17 Ich lasse mich gern von ökonomisch Kundigen belehren, interpretiere aber diese Aussage zunächst so, daß hier dem Faktor Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit Priorität zugestanden wird.

In bevölkerungspolitischen Deutungen historischer Geschehnisse wird der Überschuß an jungen Männern als Ursache kriegerischer Aggression gewertet. Auch hier, wie in der Trauma-Ritual-Hypothese handeln Menschen automatisch-instinktiv, ihr Handeln ist nicht Ergebnis eines Diskurses. Damit bewegt sich Heinsohn im Kontext eines biologistischen Konservatismus.

Im Spätherbst 2009 schlägt Gunnar Heinsohn dann vor, in der Nachfolge der Clinton-Agenda von 1997 die Zahlung von Sozialhilfe zeitlich zu beschneiden. Eines seiner Argumente ist die exponentielle Fortpflanzungsrate der Hilfeempfänger, deren familiäre Prägung den Qualitätsanforderungen der Volkswirtschaft entgegenstehe. Der qualitativen Abwertung des „Hartz-Vier-Prekariats“ stellt Heinsohn einen ökonomischen Elitebegriff gegenüber, wie er auch von der FDP vertreten wird – und vom Establishment des weltweiten Kapitals.

Ich überlasse es meinen Zuhörern, den roten Faden in Heinsohns Theoriebildung zu entdecken. Tatsache ist: Heinsohn ist als Diskussionsteilnehmer des Philosophischen Quartetts Teilhaber der bundesdeutschen Meinungsbildungsschickeria – als Mitherausgeber der Zeitschrift „Zeitensprünge“ ist er auch einer der führenden Köpfe der geschichts- und chronologiekritischen Bewegung. Ist diese Bewegung damit von einer Randlage heraus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ?


(Der Text dieses Aufsatzes war Grundlage eines Referats auf der Veranstaltung des Berliner Salons für Forschung & Geschichte am 05. Juli 2010)

1 Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Francorum e stirpe Merovingica, nach Vorarbeiten von Carlrichard Brühl ( ), hg. von Theo Kölzer unter Mitwirkung von Martina Hartmann und Andrea Stieldorf, 2 Bde., Hannover 2001, XXXIV + 965 Seiten + 8 Tafeln, DM 280,--

2Heribert Illig: Gefälschtes Mittelalter in: Etzelstorfer / Katzinger / Winkler: echt_falsch, Will die Welt betrogen sein ? Wien 2003, S. 281 f.

3www.derhain.de/Evolution.html

4http://www.archive.org/details/babelundbibel00deligoog

5Deutsch: Immanuel Velikovsky: Zeitalter im Chaos, Zürich 1962

6Populärwissenschaftlich gut beschrieben bei Hanns Fischer: Weltwenden, Leipzig 1928

7http://www.copernicus-gymnasium.de/eduseis/HTML/erdb4art.html

8http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/0713/wissenschaft/0004/index.html

9http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,643190,00.html

10 Heribert Illig: Die veraltete Vorzeit – eine neue Chronologie der Prähistorie, Frankfurt a.M.1988

11Heribert Illig: Das erfundene Mittelalter, Düsseldorf 1996

12Uwe Topper: Die Große Aktion, 1998

13Heinsohn, G.: The Israelite Origins of Monotheism and the Prohibition of Killing (englisch und hebräisch 1977), in: Catastrophism and Ancient History, Bd. IV, Nr. 1, 1982

14Gunnar Heinsohn: Die Erschaffung der Götter – Das Opfer als Ursprung der Religion, Reinbek 1997

15 Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus - Carl Hanser Verlag - München 2003 - ISBN 3-46-20367-2

16Daumer; Georg Friedrich: Geheimnisse des christlichen Althertums, Hamburg 1847

http://www.archive.org/details/diegeheimnissede00daumuoft

17Heinsohn, G.: Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft, Frankfurt a.M. 1984