Das Geschlecht der
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Der Gott der Sonne
als hoch aufragender flammender Jüngling - die sanfte und bleiche
Göttin des Mondes und der Nacht - jeder, der in die von hellenistischem
Mysteriengut beeinflußten Kulte involviert ist, wird diese mythischen
Gestalten mit vertrautem Lächeln vor Augen haben. Apollon und Baldr
als Herren des Lichtes, Diana, Selene und Isis als Herrinnen des Mondes
- wie zwanglos selbstverständlich und authentisch erscheinen uns diese
mythischen Personifikationen zweier Kräfte, die als kosmische Impulse
der Regulation alles Lebendigen auf dem Antlitz unserer Mutter Erde von
herausragender Bedeutung sind. Bedeutsamer und augenscheinlich wirksamer
und gegenwärtiger als die Einflüsse der Fixsterne, wurden die
Kräfte von Sonne und Mond zur Zeit der Großsteingräber
und Steinkreise aufmerksam beobachtet, ihre Auf- und Untergangspunkte in
steinernen Merkzeichen in die Erde gesenkt - wodurch sie zu einem ewigen
Zeugnis kosmischer Allverbundenheit der Menschen des alten Europa wurden.
Die Frage, in
welcher Weise Kräfte der Natur in unsere persönliche Wahrnehmung
treten, ob und inwiefern sie als menschengestaltige Personen in Erscheinung
treten, mag manchem unbedeutsam erscheinen.
Doch ist diese
Gestaltwerdung der Götter eine Widerspiegelung des Menschlichen, worin
sich das eine auf das andere bezieht. Wilhelm Grönbech teilt uns aus
seiner Anschauung der germanischen Religion mit: "Zwischen Menschen und
Göttern besteht kein Artunterschied...Die Grenze zwischen Menschen
und Göttern ist stets vorhanden, aber sie ist beweglich" (Kultur &
Religion der Germanen, II, S. 249). Und der Grieche Hesiod belehrt uns
im 8. Jhdt. v. Chr., "...daß desselben Ursprungs sind die Götter
und die sterblichen Menschen".
Was besagt
uns dies nun aber über das Geschlecht von Sonnen- und Mondesgottheit,
so wie es in der heidnischen Antike hervortritt ?
Es ist zunächst
einmal einleuchtend, daß ein Klima, in dem Schutzlosigkeit gegenüber
der Sonne den Tod bedeuten kann, dem Solaren etwas Militantes, etwas Agressives
verleiht. Und ob wir jetzt den herrschaftlichen babylonischen Schamasch,
den Soldatengott Mithras, den Bogenschützen Apollon oder die alles
beobachtenden und überwachenden Sonnengötter Indiens nehmen
- sie alle entsprechen dem Bild eines Gottes, dem man sich in seiner Erhabenheit
und Stärke nur mit äußerster Vorsicht zu nähern vermag.
Dabei ist auch die Erkenntnis nicht unerheblich, welche wichtige Rolle
der Kult des Sonnengottes etwa in Ägypten und Indien für die
Genese des Monotheismus gespielt hat.
Demgenüber
steht die Göttin des Mondes: Als verschleierte Isis auf ihrem hohepriesterlichen
Thron, was Assoziationen an orientalische Frauenbilder weckt - und andererseits
die fruchtbar gebärende und die nächtlich die Wälder durcheilende,
durchjagende Diana. An diesen Vorstellungsbildern tritt uns das Heimliche,
das verbergen Wollende und Versteckende hervor, wie es eben auch zum Wesen
der Nacht gehört. Wir treffen hier das Weibliche auf der Nachtseite
der Dinge an, oder begegnen, wie es die moderne Tiefenpsychologie jungianischer
Prägung auch formuliert hat, "der Anima in den Regionen des Unbewußten".
Jetzt drängt
sich uns die Frage auf, was uns dies über die Einstellung der Menschen
der orientalischen und hellenistischen Kulturen, die in den Jahrhunderten
vor Christi Geburt in ein inniges Beziehungsgeflecht geraten, zur Bewertung
von Mann und Frau in der menschlichen Gemeinschaft verrät.
Und hier ist
uns nun bekannt, daß der Stellenwert der Frau sowohl in den Kulturen,
die den Monotheismus hervorbrachten - von Ägypten über Israel
bis hin zum alten Iran - eine denkbar miserable war. Es würde uns
hier zu weit führen, die Ursachen dieser Entwicklung zu erkunden;
was wir im Alten und neuen Testament und im Koran zu dieser Problematik
finden, spricht eine deutliche Sprache.
Wir sind nun
vielleicht genügend vorbereitet, in jenen Kulturen in vereinzelter
Hinsicht, ganz verstärkt aber in nördlicheren Breiten einer Reihe
von Gestalten zu begegnen, in denen uns eine Göttin der Sonne und
ein Gott des Mondes erscheinen. Und ich darf hierbei als bekannt vorraussetzen,
daß die in jenen Kulturen herausragende Bedeutung der Frau als Priesterin,
Kriegerin und Seherin zum Ausdruck einer verstärkten Konservierung
matriarchalischer, matristischer bzw. matrilinearer Vorgeschichte wird.
Die Diskussion
um diese Kennzeichen menschlicher Gemeinschaft der Frühzeit ist von
heftigen Gefühlen geprägt, weil es hinsichtlich der daraus zu
ziehenden Schlüsse um Macht und Herrschaft geht, was insbesondere
die Kleriker und die Eingeweihten der männlichen Mysterienbünde
bewegen wird, sich ihr zu entziehen.
Statt also diese
Dinge in einen Raum zu stellen, der sie der Beliebigkeit von Meinungen
preisgibt, lasssen Sie mich zur Wirklichkeit des Mythos und der Religionsgeschichte
kommen.
Von den Germanen
erfahren wir aus der jüngeren Edda, daß sie an eine Sonnengöttin
namens SOL und einen Mondgott MANI glaubten. Manche Forscher kamen zu dem
Schluß, daß man diese Gestalten als spätere literarische
Erfindung abtun könne. Doch ist das nicht besonders glaubwürdig,
wenn wir bedenken, daß es noch andere Belege gibt: Im Grimnismal,
in der Älteren Edda wird SOL als "glänzende, scheinende Gottheit"
und als "heitere Himmelsbraut" (Grimnismal n. Genzmer) bezeichnet. Und
im Wafthrudnismal wird berichtet, wie die "strahlende Göttin" vor
ihrer eigenen Vernichtung in der Götterdämmerung eine Tochter
gebiert:
"Glänzend
fährt nach der Götter Fall
Die Maid auf
den Wegen der Mutter"
Die kontinentalgermanische
Überlieferung erwähnt im 2. Merseburger Zauberspruch eine Göttin
namens Sunna. Und schließlich spricht man ja im Deutschen von der
Sonne und dem Mond. Kurioserweise berichtet uns schon Caesar im "Gallischen
Krieg", daß die Germanen nur "die Gottheiten der Sonne, des Feuers
und des Mondes" verehrten. Andere Gottheiten würden sie nicht einmal
vom Hörensagen kennen. Verstreute Zeugnisse einer uralten, fast völlig
verdrängten Überlieferung ?
Wenn wir jetzt
wieder auf die Überlieferung der Jüngeren Edda zurückkommen,
so erinnern wir uns der darin erwähnten verwandschaftlichen Zusammenhänge:
SOL (Sonne) und MANI (Mond) sind Kinder eines Vaters namens Mundilföri.
Die Götter sollen über die Namensgebung des Vaters so erbost
gewesen sein, daß sie die beiden Geschwister an den Himmel versetzten,
sie dorthin verbannten. Eine Anspielung darauf, daß diese auf der
Erde keine Bedeutung mehr haben sollten, weil hier neue Götter die
Macht übernommen hatten ?
Auch den Gott
Mani stellte man als literarische Erfindung hin, obwohl die deutsche Volksüberlieferung
mit dem "Mann im Mond" wohl vertraut ist. Die volkskundliche Forschung
hat erwiesen, daß die meisten Mondsagen über männliche
Gestalten im Mond berichten (So Richard Beitl in: Deutsches Volkstum der
Gegenwart, Berlin 1933, S. 50). Dieser Mann wird meist irgendeiner Straftat
beschuldigt, wegen der er in den Mond verbannt wurde. Spiegelt sich vielleicht
auch hierrin die Ablösung einer urgeschichtlichen durch eine spätere
Religion ? Meist wird ja in einem Religionswechsel die alte Überlieferung
kriminalisiert und verteufelt.
Daß die
Sonnengöttin in vorgeschichtlicher Zeit einen wichtigen Rang gehabt
haben muß, können wir auch aus dem Runenfuthork, der alten heiligen
Symbolschrift der Germanen, ersehen: Die 16. Rune des älteren gemeingermanischen
Futhorks mit 24 Runen trägt den Namen SOL.
Bei den den Germanen
benachbarten Lappen entdeckten wir eine Göttin namens BEIJEN-NEJTA,
auch genannt NJAVVIS-ENE, die die Tochter des Sonnengottes BEIJVE darstellt.
Sie hieß auch TJALMI (Das Auge) und ihre Erscheinung wurde so geschildert:
"Wenn sie in einen Raum trat, wurde es dort doppelt so hell wie vorher
- ja, auch wenn es ein noch so trüber Tag war, schien es, als strahle
die Sonne, wenn sie hereinkam." (Valdemar Lindholm, Märchen u. Sagen
aus Lappland, Leipzig 1989, S. 14).
In unmittelbarer
Nachbarschaft der Germanen stoßen wir auch auf die baltischen Völker.
Hier sind es die Letten und die Litauer, die eine Göttin namens SAULE
teils als "Sonnenjungfrau" teil als "Mutter Sonne" verehren. Diese Göttin
nimmt in der lettischen Religion eine zentrale Stellung ein. Als Sonnenjungfrau
sitzt sie auf dem Himmelsberg, wo sie in ihrem golden funkelnden Brautgewand
aus Wolle, Samt und Seide die Götter DIEVS, MENESS (Mond) und PERKONS
(Donner) erwartet. Über den Himmelsberg fährt sie mit ihrem Pferdegespann.
Auf dem Himmelsberg
befinden sich auch der Hof und die Felder der SAULE als Mutter Sonne. Hier
waltet sie als freie Bäuerin und vermittelt zwischen ihren Töchtern
(SAULES MEITAS) und deren Freiern, die den Himmelsberg emporsteigen. Hier
werden wir auch gleich an die Tochter der Sonnengöttin erinnert, wie
sie uns die Ältere Edda schildert.
SAULE und ihre
Töchter weben, spinnen Seide, flechten Kränze und bestellen ihre
himmlischen Felder. Zur Sommersonnenwende erwarteten die lettischen Bauern,
daß SAULE ihre Felder umschreitet, sie auch bei ihrem Durchschreiten
segnet, auf daß die Ähren reif und schwer werden. (Wörterbuch
der Mythologie BD. II - Götter und Mythen im Alten Europa, Hrsg.:
Hans Wilhelm Haussig, Stuttgart 1973).
Was nun die Religionsgeschichte
hinsichtlich der baltischen Mythologie festgestellt hatte, spiegelt sich
auch in zahlreichen slawischen Märchen wieder. Als "Mütterchen"
am Herd eines "Sonnenhäuschens" erscheint die Sonne als weise hilfsbereite
Frau in dem tschechischen Märchen "Das Blauvöglein".
Auch bei den
Kelten lassen sich Spuren einer solaren weiblichen Gottheit ausmachen,
es ist die Göttin SUL, bzw. SULIS, deren von einem überlebensgroßen
bronzenen Kultbild abgetrenntes vergoldetes Haupt man im Museum von Bath
bewundern kann. Dabei war Bath nach Sylvia und Paul F. Botheroyd eines
der wichtigsten keltischen Heiligtümer Britanniens, bis es die Römer
zu einer Kultstätte der MINERVA machten (s. Sylvia & Paul F. Botheroyd,
Lexikon der keltischen Mythologie, München 1995).
Das Wort "Grian"
im irischen und schottischen Gälisch ist übrigens weiblichen
Geschlechts, ebenso wie das personal zu verstehende "Mor", was in
dem Gruß "Mor dhuit" ("Möge Dich die Sonne schützen") zum
Ausdruck kommt. Ein volkstümliches schottisch-gälisches Gebet
aus einer Sammlung Kenneth Jacksons tituliert die Sonne als "fröhliche
Mutter der Sterne", die sich "wie eine junge Königin in den Blumen
erhebt" (Zitiert in : Janet & Stewart Farrar, A Witches Bible Compleat,
Vol.1, The Sabbats, S. 81, New York 1991).
Bei näherer
Betrachtung der antiken Überlieferung kommt man einem interessanten
astralmythologischen Zusammenhang auf die Spur: Vor der Herrschaft der
olympischen Götter mit Zeus an der Spitze gab es bekanntlich die Titanen,
zwölf Urgottheiten, davon sechs Männliche und sechs Weibliche.
Nun war die Titanin
THEIA ("die Göttliche"), die auch EURYPHAESSA ("die weithin Leuchtende")
genannt wurde, die Mutter des Sonnengottes HELIOS ! Sein Vater war der
Titan HYPERION. Auch brachte THEIA die Göttinnen EOS (Göttin
der Morgenröte) und SELENE zur Welt. Kerenyi zitiert schließlich
eine antike Quelle, in der eine weibliche Sonnengottheit HELIA genant wird
! Auch erläutert er: "...die Sippe des HELIOS wies viele göttliche
Mädchen und Frauen auf". Schließlich hat HELIOS mit NEAIRA drei
Töchter: LAMPETIA ("die Erhellende"), PHAETUSA ("die Leuchtende")
und AIGLE ("das Licht") (S. Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen Bd.
1, München 1984, S.151-154). So erstaunt uns auch nicht mehr das bei
Kerenyi an gleicher Stelle wiedergegebene Pindar-Zitat: "Sonnenstrahl Du,
vielschauende Mutter der Augen".
Auch bei einer
anderen vorgeschichtlichen Kultur, den hethitischen Chatten, wurde eine
Sonnengöttin als Hauptgöttin verehrt, wie uns Joe Heydecker in
seiner Geschichte der Frau in den Mythen und Religionen der Menschheit
mitteilt: Es war die Göttin ARINNA. (Joe Heydecker, Die Schwestern
der Venus, München 1991, S. 97).
Lenken wir nun
unseren Blick nach Indien, das in seinem vielfältigen hinduistischen
Pantheon natürlich ebenso eine Gestalt kennt, die das Tagesgestirn
darstellt. Hier stoßen wir auf ein seltsames Versteckspiel oder vielmehr
eine Art Vertuschungsmanöver: Bekanntermaßen gibt es bei den
Hindus einen Sonnengott namens SURYA, dessen Hymnen bereits im viertausend
Jahre alten Rigveda erscheinen. Doch erscheinen uns die dementsprechenden
Übersetzungen, vielleicht aber auch die Urtexte äußerst
zweifelhaft: Zufällig fanden wir bei Golther die Angabe, die alten
Inder hätten eine Sonnengöttin namens SURYA verehrt (Wolfgang
Golther, Germanische Mythologie, 1908, S. 215). Da wir auch bereits indische
Kunstwerke gesehen hatten, die SURYA eindeutig als Mann darstellen, kam
uns das unglaubwürdig vor.
Dann aber fanden
wir in einer Hymnensammlung des Leipziger Sanskritologen Klaus Mylius einen
Hymnus, der die Hochzeit der Göttin SURYA mit dem Gott SOMA zelebriert,
welcher in der alten hinduistischen Mythologie als Mondgott gilt ! Mylius
erwähnt nicht nur, daß als mythische Verfasserin des Hymnus
die Göttin selbst gilt. Auch habe dieser Text Eingang in das spätere
Hochzeitszeremoniell gefunden, da hier ein Hochzeitsritual in allen Einzelheiten
mit vielen Segenssprüchen geschildert wird. Unter anderem heißt
es dort:
"...die beiden
Ashvins sollen dich voranfahren auf dem Kriegswagen. In die Wohnung gehe,
damit Du die Herrin wirst. Als Gebieterin sprich zur Opferversammlung !
Hier soll dir
Liebes durch Nachkommenschaft zuteil werden.
In diesem Hause
wache über das Hausfeuer ! Mit diesem Gatten vereine den Körper
! Noch als zwei greise Leute sollt Ihr zur Opferversammlung sprechen."
(Älteste
indische Dichtung und Prosa, herausgegeben von Klaus Mylius, Wiesbaden
1981, S.60).
Wir können
uns diesen seltsamen Geschlechtswandel von SURYA nur als Teil der allgemeinen
Umfälschung des Ur-Hinduismus vorstellen, bei der z.B. zwei ursprünglich
ganz abseitige Gottheiten wie VISHNU und RUDRA (SHIVA) zu Hauptgöttern
wurden, während solche Götter wie INDRA und AGNI fast ganz in
Vergessenheit gerieten.
Nachdem wir nun
verschiedene indoeuropäische Kulturen betrachtet haben, schweift unsere
Aufmerksamkeit einmal in eine Region, die zwar einerseits so fern und fremd
ist und doch andererseits für viele Europäer von höchster
Faszination: Ich spreche von Japan, das mit seinem einheimischem Shinto
als letzte Hochkultur dieser Erde die eigene, ursprüngliche Naturreligion
zu bewahren vermochte. Und da begegnet uns die Sonnengöttin AMATERASU,
die an der Spitze der Götter steht, die Himmelsgefilde regiert und
als Ahnmutter der japanischen Kaiser gilt. Diese haben die Pflicht, sich
bei ihrem Amtsantritt in ihrem Heiligtum in Ise persönlich vorzustellen.
Da die Shinto-Religion über schriftliche Überlieferungsquellen
verfügt, ist uns hier auch ein Mythos der Sonnengöttin bekannt
geworden, der die Bedeutung der Göttin für die Japaner illustriert:
Einst zerstörte der Meer- und Sturmgott SUSA-NO-O die von AMATERASU
angelegten Reisfelder und Wassergräben, so daß sich die Göttin
erbittert in ihre himmlische Wohnung zurückzog. Auf der Erde wurde
es finster und die ewige Nacht verbreitete sich. Schließlich versammelten
sich alle Gottheiten und brachten ein Sühnopfer dar, während
die Göttin AMA-NO-UZUME einen kultisch-erotischen Tanz aufführte,
bei dem sie sich entkleidete.
Von dem schallenden
Gelächter der Gottheiten angelockt, verließ AMATERASU ihre Felsenwohnung
und kam wieder zur Erde zurück (Gerhard J. Bellinger, Im Himmel wie
auf Erden, München 1993, S. 323f.).
Wir können
erkennen, daß agrarische Fruchtbarkeit in der Wahrnehmung der Göttin
bei den Japanern eine ähnliche Rolle zu spielen scheint, wie bei der
SAULE der Letten.
Es wird wohl
mehr als eine lyrische Figur sein, wenn Franz v. Assisi (1182 - 1226) in
seinem Sonnengesang das Gestirn des Tages "...die hohe Herrin, unsere Schwester
Sonne" tituliert. Und auch Hölderlin sprach in seinem Gedicht "Geh`unter
schöne Sonne..." im Gedenken an seine geliebte Diotima von "des Himmels
Botin".
Was aber könnte
das alles bedeuten ? Ein möglicher Ansatz könnte die Tatsache
sein, die Leo Frobenius bereits 1923 aufgedeckt hatte, als er die Verbreitung
des Glaubens an die Göttin der Sonne in geographischer Hinsicht untersuchte.
Er stellt fest: "Die großen Landmassen im Norden sahen und sehen
den Mond als männlich, die Sonne als weiblich an. Die pazifischen
und mediterranen Randkulturen dagegen sehen die Sonne als männlich
und den Mond als weiblich, ihr Verhältnis zueinander aber als das
eines Gattenpaares an" (Leo Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes,Berlin
1923, S. 61 f.). Fühlen wir uns hier nicht genötigt, an
die schon von Wirth vertretene These einer zirkumpolar ausstrahlenden Kultur
zu denken, zu deren herausragenden Kennzeichen eine besondere Bewertung
der Frau in ihrer Verbundenheit dem Göttlichen gegenüber gehörte
?
Demgegenüber
sagt der amerikanische Matriarchatstheoretiker James De Meo, daß
die Entwicklung des Patriarchats in den Steppengebieten Südrußlands
und der arabischen Wüste ihren Ausgangspunkt genommen haben muß.
Nach seiner Theorie veranlaßte die in diesen Gebieten stattfindende
Wüstenbildung die indoeuropäischen Streitaxtleute wie auch die
frühen Araber zur Herausbildung einer lebens- und damit frauenfeindlichen
Ideologie, so daß die gesamte Entwicklung der modernen Zivilisation
und ihrer Religionen mit den hier geschilderten mythologischen Besonderheiten
in einer seltsamen Beziehung zu stehen scheint. Denn hier geht es um die
Herrschaft der indoeuropäischen Völker in Form der anglo-amerikanischen
Prägung unseres Planeten einerseits, um den Siegeszug von jüdischer,
christlicher und islamischer Religiosität andererseits.
Was die Mondgötter
betrifft, so will ich aus Raum- und Zeitgründen nur kurz ihre historische
Existenz streifen, um unsere Aufmerksamkeit nicht über Gebühr
zu beanspruchen.
Der altarabische
WADD, der babylonische SIN, der ägyptische THOT, der ägyptische
CHONS
der altindische SOMA, der germanische MANI, der umbrische LUNUS, der lettische
MENESS und der japanische TSUKI-YOMI illustrieren die von Frobenius gemachten
Feststellungen mit einem beeindruckenden Ausmaß an mythologischer
Substanz.
Wenn wir die
von James George Frazer (1854 - 1941) angestellten Forschungen über
den sterbenden und wiedergeborenen Gott genau betrachten, werden wir feststellen,
daß hier primär von Vegetationsgöttern die Rede ist, und
nicht von Sonnengöttern, mithin also von Gottheiten, die den aus der
Erdentiefe neu hervorkommenden pflanzlichen Keim symbolisieren. In diesem
Kontext können wir zu einem neuen Verständnis der Wesenssubstanz
des Lunaren kommen, das sich in seiner Beziehung zum Wasserelement durchaus
in Verbindung mit der Fruchtbarkeit, dem Wachsen und Reifen bringen läßt,
wie auch jedem Bauern und Gärtner wohlbekannt ist.
So hoffe ich,
Ihnen einen wesentlichen Mosaikstein geboten zu haben, was die Frage des
Charakters der in den alten Kultstätten Europas verehrten Gottheiten
betrifft.
MATTHIAS WENGER
Der vorstehende Text wurde auf der 30. Arbeitstagung des Arbeitskreises Walther Machalett für Vor- und Frühgeschichte e.V. zu Himmelfahrt 1996 vorgetragen.